Diverse Materialien, 130 x 165 x 70 cm
Gerda Steiner (*1967) und Jörg Lenzlinger (*1964), die seit 1997 zusammenarbeiten, haben sich national und international mit spektakulären Installationen und Assemblagen einen Namen gemacht. Ihr zentrales Thema, das als lustvoller Parcours durch die Evolutions-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte daherkommt, ist das hochkomplex gewordene Verhältnis von Natur und Zivilisation. Einen ersten Grossauftritt, bei dem sie die Verflechtung dieser einst dualen Kategorien mit Blick auf das Prosperieren der Schweiz demonstrierten, hatten die Künstler mit ihrer anlässlich der Expo.02 in Murten aufgebauten, blubbernd austreibenden „Heimatfabrik“ (2002). Andere Highlights ihrer bisherigen Werkpraxis sind der als Beitrag zur 50. Biennale von Venedig in der Kirche San Stae realisierte luftige „Giardino calante“ (2003), die Ausstellung „Seelenwärmer“ in der Stiftsbibliothek St. Gallen (2005) und die aufwendige Schau „Nationalpark“ im anschliessend abgerissenen Altbau des Bündner Kunstmuseums in Chur (2013).
Für das Aargauer Kunsthaus haben Steiner/Lenzlinger 2003 zum Abschluss der Museumserweiterung die Arbeit „Wucher“ konzipiert und sie in einem spornartigen Teil des neuen Foyers dauerhaft installiert. Auf knappstem Raum haben sie aus einem Sammelsurium banaler Objekte und aus Harnstoffkristallen, mit deren Verwendung sie bekannt geworden sind, eine als Schaukasten angelegte Wunderwelt erschaffen. Diese präsentiert sich als Kombination aus Laboratorium, Vivarium und allerlei Geozonen vereinendem Biotop. Bewohnt wird sie von einem bizarren grünen Organismus, der anderen Elementen symbiotisch aufsitzt und sich am liebsten von Aufmerksamkeit ernährt. „Wucher“, so die augenzwinkernde Beschreibung der Künstler, „ist das Haustier des Kunsthauses in Aarau. Seine Vitrine liegt gleich neben der Küche, damit man ihm die Abfälle geben kann. Es wird zusätzlich noch mit Dünger gemästet, damit seine Farbe schön kräftig bleibt. Wucher wächst von Jahr zu Jahr, und das Haus sucht noch immer ein geeignetes Weibchen, das seine goldenen Eier auszubrüten vermag.“
Idee und Umsetzung von „Wucher“ spielen folglich mit der Vorstellung des umsichtigen Hegens und Pflegens sowie der beobachtenden Teilhabe an diesem Prozess. Wie beim Umsorgen eines Geschöpfs, das allen lieb ist, soll man neugierig mitverfolgen können, wie zwischen Deko und Naturkürzeln das noch Unbekannte heranwächst und wie es zur Verkörperung blühender Kreativität wird. Die Vitrine ist dabei in miniaturartiger Verdoppelung des einladend verglasten Foyers nicht nur einfach Schutzzone und Schauplatz. Sie ist vielmehr ihrerseits ein auf das Ausstellen verweisendes Exponat. Als solches wird sie zum modellhaften Abbild des Hauses als kontinuierlich angereicherter, wohlgedeihender Kunstkosmos, als Ort der fruchtbaren Beschäftigung mit Kunst. Dieser für Steiner/Lenzlinger grundlegende Gedanke der Proliferation widerspiegelt sich in der omnipräsenten Fertilitäts- und Wachstumssymbolik. Blüten und Korallen, Luftwurzeln aus losen Magnetbändern, künstliche Kristalle – sie alle machen aus dem Nebeneinander disparater Elemente den Humus eines neuen vernetzten Ganzen und sind so ein stimmiges Sinnbild für das jeder Sammlung innewohnende Potenzial. Analog dazu lässt sich denn auch das unterirdische Nest mit den drei goldenen Eiern als Museumsmetapher begreifen. Wie ein gut geschütztes Schaudepot scheint es für die Kernaufgaben eines jeden Museums zu stehen: das Sammeln, das Bewahren sowie das unter anderem durch Ausstellen geleistete Vermitteln.
Astrid Näff, 2021