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Miriam Cahn, Sarajevo (1-4), um 1994
Acryl auf Papier, , Arbeit auf Papier
Aargauer Kunsthaus Aarau / Schenkung Betty und Hartmut Raguse-Stauffer

Miriam Cahn (*1949) zählt zu den wichtigsten Vertreterinnen der neueren Schweizer Kunst. Das Aargauer Kunsthaus widmete ihr 2015 die umfassende Einzelausstellung „körperlich – corporel“. Cahns frühes Schaffen der 1970er- und 1980er-Jahre ist der ausschliesslichen Konzentration auf Schwarzweisszeichnungen verpflichtet; ihre grossen, expressiven Werke, die sie in performativen Akten auf dem Boden anfertigt, machen sie national und international bekannt. Gegen Ende der 1980er-Jahre öffnet sich ihr Schaffen allmählich gegenüber der Farbe. Diese übernimmt die expressiv-emotionale Funktion, die bis anhin dem Zeichenstrich zukam. Hauptmotiv bleibt dabei die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und dem weiblichen Rollenbild, wobei die individuelle Erfahrung stets als Ausgangspunkt für die kompromisslose Thematisierung gesellschaftlicher Zustände dient.

Cahns radikale künstlerische Hinwendung zu tabuisierten Themen gewinnt mit Ausbruch des Golfkriegs und der Balkankonflikte zu Beginn der 1990er-Jahre an politischer Brisanz. Es entstehen zahlreiche Zeichnungen in Bleistift, Kreide und Acryl, meist in Serien von drei bis vier Blättern, in denen sich die Künstlerin mit den Gräueln des Kriegsgeschehens auseinandersetzt, die sie täglich über Fernsehbilder erreichen. Während manche dieser Zeichnungen explizit auf die Kriegszustände verweisen, etwa indem sie Soldaten, Panzer und fliehende Menschen zeigen, sind andere eher subtiler Natur und entfalten ihr kritisches Potenzial oft erst durch den suggestiven Werktitel. So auch die Arbeit „Sarajevo“: Drei der insgesamt vier Blätter zeigen in Erd- und Pastellfarben gemalte liegende, nackte Körper, deren Fragilität durch die Farbgebung zusätzlich unterstrichen wird. Es sind reduzierte, leise Zeichnungen auf weissen Blättern, entstanden in einem fliessenden, luftigen Duktus, der die Figuren ganz aus der Farbe erwachsen lässt, ohne sie stark zu konturieren oder zu schattieren. Im Widerspruch zur warmen Farbgebung steht die seltsam fremdartige Körperlichkeit der Liegenden. Es handelt sich um gebrochene, versehrte Körper, denen jegliche Lebensgeister entzogen scheinen. Die Köpfe sind in unnatürlichem Winkel abgeneigt, die Arme hängen passiv zur Seite. Auf dem vierten Blatt blickt uns in näherer Ansicht ein Augenpaar an. Obwohl sich nicht bestimmen lässt, ob es sich nun um schreckhaft geweitete oder im Tod erstarrte Augen handelt, so ist ihnen in jedem Fall eine qualvolle Stummheit eingeschrieben, die die Unterscheidung zwischen belebt und unbelebt unerheblich macht.
Mit der liegenden Figur findet Cahn anfangs der 1990er-Jahre eine Möglichkeit zur Darstellung der Ambivalenz zwischen Schönheit und Schrecken, zwischen Einzelerfahrung und kollektivem Schicksal. Der Gebärde des Liegens haften unterschiedlichste Konnotationen an, die im Kriegskontext Verwundung und Tod bedeuten, gleichzeitig aber auch intime Erfahrungen wie Sexualität und Traum umfassen. In ihr wird das allgemeine politische Geschehen als Trauma des einzelnen Menschen darstellbar, das in der medialen Berichterstattung abstrakt und fremd bleibt. Dem mit Worten Unbeschreiblichen begegnet die Künstlerin hier mit äusserster Reduzierung der künstlerischen Mittel. Durch die Einfachheit der Darstellung entstehen Bilder besonderer Prägnanz, die auf einer weitaus intimeren Ebene vom Zustand des Menschen unter horrenden Bedingungen künden, als dies eine Fotografie oder ein Fernsehbild vermögen, und die gleichzeitig die Möglichkeit einer friedvolleren Lesart offen lassen.

Raphaela Reinmann, 2018

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