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Anna Winteler, Discours des montagnes à la mere: Berge, 1988
Fotografie, Druckgrafik auf Papier,
Aargauer Kunsthaus Aarau
Copyright: Anna Winteler
Fotocredit: René Rötheli

Vom Tanz und der Bühne kommend, entdeckt Anna Winteler (*1954) bei einem Workshop in Paris mit dem Choreografen Merce Cunningham und dem Videokünstler Charles Atlas 1978 das Medium Video als Mittel der bildenden Kunst. Ein paar Monate später zieht sie nach Basel, wo über die nächsten 13 Jahre im Kreis einer experimentierfreudigen Szene, zu der unter anderem Reinhard Manz, René Pulfer und Erich Busslinger gehören, ihr ebenso konzeptuelles wie sinnliches Werk entsteht. Ihr potentes Debüt gibt sie mit einer Videoperformance, bei der sie kunstvoll und wie in Zeitlupe das Rheinufer abschreitet und sich dabei nach und nach entkleidet. In der Folge realisiert sie zunächst einige körper-, raum- oder handlungsbezogene Arbeiten in Innenräumen, bevor sie im Herbst 1984, nach zwei Sommern als Alphelferin im Val Maighels, mit dem Zyklus «Discours des montagnes à la mere» beginnt.

«Bewegen ist das Mutter-Prinzip, aus welchem alles wird.» Diesen Satz, der nicht nur für den Körper, sondern auch für das Videobild gilt, hält Anna Winteler noch im gleichen Jahr zum ersten Teil des Zyklus fest. Nachlesen lässt er sich im Künstlerheft «Tanzen mit dem Video», das die Ausstellung «Bewegungsräume» in Wien begleitet, wo Winteler eine Videoskulptur in Form eines raumhohen Gewindes zeigt, an dem sich ein Monitor stetig hinauf- und hinabschraubt. Das Bildmaterial – Aufnahmen verschiedener Körperpartien und Bergbilder – fliesst später in weitere Werkvarianten ein. So ist die Künstlerin 1987 im Kunsthaus Zürich in der Ausstellung «Stiller Nachmittag» mit einem Videotriptychon vertreten, das die Berge nunmehr in abstrakte Zusammenhänge stellt. Im Katalog ist zudem erstmals der «Discours» abgedruckt: ein berührender, existenzieller Gedankenstrom, der sich gemäss dem Sprachspiel im Titel (mere), ebenso an die Mutter (mère) richtet, wie an das für die Berge und den Bergbach noch weit entfernte Meer (mer). Wohl mitinspiriert durch die Nähe zur Rheinquelle, ist er eine Geschichte über die Liebe zu Geschichten und die dem flüchtigen Leben eigene Melancholie. Die überzeitliche Ebene einer nur langsam erodierenden Natur ist darin genauso angesprochen wie alles organische Werden und Vergehen.

Dieselbe Auflösungsmetaphorik aus Licht, Wasser und Gestein ist zuvor schon Thema einer Bodeninstallation mit dem Zusatztitel «La terre après tout est quand même ronde». Deren prominenteste Fassung zeigt die Künstlerin 1986 in der Aperto-Sektion der Biennale von Venedig. Eine Tischversion, «Etat de choses – Etat d’urgence», füllt 1988 bei ihrem grossen Solo im Obergeschoss der Kunsthalle Basel den dritten und letzten Raum. Den Einstieg in diese Einzelschau, die ihr Jean-Christophe Ammann ermöglicht, bilden derweil zwei lange Reihen hängender und aufgeständerter Monitore. Auf jedem von ihnen sind zusehends blassere und stärker verrauschte Kopien der Bergaufnahmen aus dem Val Maighels zu sehen. Sich überlagernd, bilden die markanten Umrisse des Piz Nair und jene der umliegenden Gipfel bald schon ein Wellenspiel. Die grosse, stabile Masse Berg verflüssigt sich also auch hier und antizipiert ihr Aufgehen im Meer.

Der vorliegende Sechserblock scheint dagegen mit seiner kompakten Form und den schweren Stahlrahmen das Wegschwemmen des Materials und der Worte mit aller Kraft aufhalten zu wollen. Entstanden im Jahr der Basler Einzelausstellung, kombiniert er drei der Bergpanoramen mit drei verschiedenen Sprachversionen des «Discours». Letztere sind ohne Zeilenabstände gesetzt und deshalb nur mit Anstrengung zu lesen – auch dies ein Verlangsamungsakt. Mehrere Versionen mit jeweils anderen Videostills und leicht variierenden Formaten existieren. Abgezogen sind sie in einer Skala zwischen Aquamarin und Schiefergrau. Die schon fast schwarzweisse Aarauer Version fällt durch ihre Betonung der Diagonalen auf. Sie erinnert darin stark an die Arbeit «Der Aufstieg / Der Abstieg», eine Videoperformance, für die Anna Winteler Ende 1987, beladen mit etlichen Kilogramm Technik, eigens nochmals ins Val Maighels zurückkehrt. Eine Wand mit Dutzenden Stills dieser Arbeit ist schliesslich 1991 auch Teil ihres Beitrags zur Aarauer Ausstellung «in Nebel aufgelöste Wasser des Stromes». Die Schau ist der Anlass für den Ankauf des Sechserblocks – und sie ist Anna Wintelers letzter Auftritt als aktive Künstlerin.

Astrid Näff, 2023

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