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Flavio Paolucci, Alfabeto selvatico, 1976
Holz, Papier, Farbe / Bois, papier, peinture, Länge 1050 cm
Aargauer Kunsthaus / Ankauf
Copyright: Flavio Paolucci, Biasca
Fotocredit: René Rötheli

Zwanzig lose Teile umfasst das „Alfabeto selvatico“ des Tessiner Künstlers Flavio Paolucci (*1934). Auf Augenhöhe an Schlingen befestigt oder gegen die Wand gelehnt, bilden sie eine Gruppe verschieden geformter, quasi in den Raum gezeichneter Objekte – je nach Zählweise einige mehr oder weniger. Funktion, Sinn und Bedeutung dieser Objekte entziehen sich dem sofortigen Zugang. Erst der Titel der Arbeit, der sich als „wildes Alphabet“ übersetzen lässt, macht sie als Träger semantischer Inhalte kenntlich und gibt somit ihren zeichenhaften Charakter preis. Die Ausgestaltung der Schwünge, die Über- und Unterlängen sowie die angedeuteten Ligaturen lassen an handschriftlich Notiertes denken. Auch erinnert die sorgfältige Reihung der grafischen Einheiten an Schriftzeichen. Paoluccis Glyphen folgen jedoch einer Logik, die sich nicht festschreiben lassen will, jedenfalls nicht nach menschlichen Vorgaben. Entsprechend wenig zielführend ist es, nach der Symbolik des einzelnen Zeichens oder „Buchstabens“ zu fragen. Was hier erschlossen und ansatzweise verstanden werden will, ist der Reihe als Ganzes eingeschrieben und erzählt vom Verhältnis zwischen Mensch und Natur.

Wie der Werktitel ebenfalls signalisiert, gehört beim „Alfabeto selvatico“ die Rolle der Sprecherin der Natur respektive dem Wald (ital.: la selva). Dem Künstler obliegt jedoch der formende oder vielmehr der transformierende Eingriff, die Verwandlung von Holz in ein kulturelles Artefakt. Hierbei knüpft Paolucci an die bildnerisch adaptierten botanischen Veredlungsmethoden an, die sein Schaffen, zusammenfallend mit der Ausweitung seines Arbeitsumfelds in die steilen Wälder von Biasca direkt hinter und oberhalb seines Ateliers, seit kurzem bestimmen. Das Werkmaterial – Triebe parasitärer Schlingpflanzen – leistet dabei im frischen Zustand relativ wenig Widerstand. Im Vergleich mit dem Aufpfropfen (ital.: innestare), das dem Vorgängerzyklus der „Innesti“ von 1974 zugrunde liegt, erweist sich der Eingriff also als moderat. Auch umwickelt der Künstler die Stellen, wo er die Ranken erstmals mit den Händen berührt hat, mit mehreren Lagen dünnstem, weiss belassenem Seidenpapier. Daraus wird in der Folge eine spezifische, Volumen und Oberflächen unauflöslich verschmelzende Praxis. Vorerst entspringt die zarte, im doppelten Wortsinn verbindende Geste aber noch primär einer Haltung der Zuwendung, des Schützens und des Respekts. Sie vermittelt die Idee, das Gehölz der Natur entnommen und es ihr verändert wieder zurückgegeben zu haben. Damit ist sie, so Paolucci, ein Zeichen dauerhaften Erinnerns an diesen Prozess. Analog dazu verweist auch die matte, schwarze Farbschicht, welche die Ranken respektive die Papierhaut überzieht, auf menschliches Tun. Angemischt mit Russ aus den offenen Feuerstellen alter Tessiner Häuser, gemahnt sie nicht nur an die frühere Form des Energie gewordenen Holzes. Sie bezeugt auch die vormals karge, dem Künstler seit seiner Jugend im Bleniotal vertraute Lebenswirklichkeit der Region und bringt so im Unterschied zu den Knoten und Internodien der Ranken, die das organische Wachstum strukturieren, den Aspekt der Tradition und die ihr eigene Zeitlichkeit mit ins Spiel.

Astrid Näff, 2025

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