Gelatine-Silberdruck auf Barytpapier, je 168 x 130 cm
Der Berner Fotograf Balthasar Burkhard (1944–2010) ist für seine zeitlos-archetypischen, meist schwarzweiss abgelichteten und gross abgezogenen Motivfolgen bekannt. Mit diesen Werken, die unter anderem Körperteile, Tiere, Urlandschaften, Metropolen und zuletzt in Farbe festgehaltene Blumen und Blüten zeigen, setzt er neue fotoästhetische Standards und etabliert sich ab den 1970er-Jahren als bedeutender Exponent der Künstlerfotografie.
Der Weg dahin ist bereits in der Lehrzeit und den ersten Berufsjahren angelegt: So vermittelt ihm Kurt Blum (1922–2005), der selbst stets mit hohem ästhetischem Anspruch agiert und sich im Kreis von Arnold Rüdlinger (1919–1967) am Puls der Kunstwelt bewegt, nicht nur das handwerkliche Wissen, sondern auch den Langzeitauftrag als Chronist der inzwischen von Harald Szeemann (1933–2005) geleiteten Kunsthalle Bern. Burkhard knüpft Kontakte zur aufstrebenden lokalen Kunstszene und macht sich einen Namen mit neuartigen Print- und Präsentationsverfahren. Insbesondere die gemeinsam mit Markus Raetz (*1941) in Amsterdam geschaffenen Fotoleinwände der Serie „Die ersten hundert Tage der siebziger Jahre“ verdienen diesbezüglich Erwähnung: Sie bringen das Fotografische mit dem Bildhaft-Künstlerischen der Malerei zusammen und führen 1970 im Rahmen der Ausstellung „Visualisierte Denkprozesse“ im Kunstmuseum Luzern zu Burkhards erstem Museumsauftritt.
Zwei Jahrzehnte später hat sich das Spektrum der Werkformen unter anderem um monumentale Reihen wie „Les jambes“ (Inv.-Nr. D1808), Kombinationen mit monochromer Malerei sowie um Diptychen und Triptychen erweitert. Zu Letzteren, die kunsthistorisch beide mit sublimen Erfahrungen konnotiert sind, zählt auch das vorliegende zweiteilige Werk. Es ist Teil einer Folge von Bergansichten, die Burkhard, Sohn eines Berufspiloten und ideeller Erbe des Schweizer Luftfahrtpioniers Eduard Spelterini (1852–1931), 1993 vom Helikopter aus am südlichen Alpenkamm aufnimmt. Partiell von Wolkenbänken verhüllt und am Horizont in dunkler Unbestimmtheit versinkend, zeigt es das Gebiet unmittelbar östlich der Dent Blanche, wobei der Anblick genau jenem entspricht, der sich vom Matterhorn aus nach Norden bietet. Nicht die beiden markantesten Gipfel des Wallis sind folglich im Bild, sondern zwei andere Viertausender: das Zinalrothorn (rechts) und das Ober Gabelhorn (Mitte). An sie schliesst im linken Paneel die etwas weniger hohe Gruppe mit dem Mont Durand und dem Arbenhorn an; unten rechts geben die Wolken den scharfen Grat der Arbengandegge frei.
Fragen nach dem Was und Wo sind für Burkhard in dieser Detailliertheit aber irrelevant. Die Gewohnheit des Vaters, jede Bergspitze akkurat zu benennen, lässt ihn zu solch kartografischen Sichtweisen früh auf Distanz gehen. Wichtiger scheint, dass dem ikonischen, medial jedoch völlig abgegriffenen Klischeebild der Alpen ein nicht minder grandioses, aber weniger leicht zu verortendes und gerade deshalb seltsam massstabsloses Panorama entgegengesetzt wird. Aus dem Berg wird durch diesen Kunstgriff das Gebirge. Dass es nicht um topografische Einordnung geht, lässt auch die künstlerseitig geübte Zurückhaltung bei der Bildlegende erkennen. Selbst der üblicherweise verwendete Titel „Alpen“ entfällt. Stattdessen dient die verschneite Bergwelt – wie dies später auch bei der Meeresbrandung, der Wüste Namib, dem urtümlichen Klöntal und dem Rio Negro sowie der Bernina-Serie der Fall ist – als majestätisches Sehnsuchtsbild, als Folie für den Wunsch nach Ursprünglichkeit und Authentizität. Ein Gefühl der Erhabenheit stellt sich ein, das durch den Entscheid, die Landschaft schwarzlastig abzuziehen und darauf zu bauen, dass die Konturen sich analog zur ephemeren Wolkenformation beim Nähertreten zusehends auflösen, weiter bedient wird. Festen Halt suggerieren allein die schweren, stählernen Rahmen, die allerdings gleichzeitig als unmissverständlicher Fingerzeig auf die Konstruiertheit und fotografische Ausschnitthaftigkeit des Bildes fungieren. Folgerichtig lässt sich dasselbe Motiv in variierenden, einander ergänzenden Segmenten denn auch in anderen Werkzusammenhängen ausmachen, so zum Beispiel 1993 in einer Reihe schlanker Hochformate oder 1994 in einem Portfolio mit sechs Heliogravüren (Inv.-Nr. G3489.01-06).
Astrid Näff