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Gerda Steiner Jörg Lenzlinger, Bergunfall, 2005
Zerbrochene Autoscheinwerfer, Draht, Tisch, Pumpe, Kanister, eingefärbter Flüssigdünger, 100 x 65 x 150 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau / Schenkung Beat Wismer

Dramen am Berg – die Kehrseite kühner Eroberungen – haben die Menschen schon immer berührt. Ähnliches gilt für die Macht der Natur im Gebirge: Seit der Romantik hat sie unzählige Künstler inspiriert. Mit dem Auto kam dann ein neues Freiheitssymbol ins Spiel, mit dem Tempo ein neues Mass. Erst höher, dann schneller und weiter – im Antagonismus von Berg und Auto findet der Leitspruch menschlicher Exzellenz ein eingängiges Abbild.

Als charmante Glosse zu diesem Thema lässt sich die Arbeit „Bergunfall“ (2005) des Schweizer Künstlerpaars Gerda Steiner (*1967) und Jörg Lenzlinger (*1964) sehen. Etwas ungestalt im Erscheinungsbild, weckt sie die Neugier zunächst wegen der pinkfarbenen Masse, die sich auf einem alten Holztisch türmt. Scharfkantig ragen Metall- und Kunststoffteile aus ihr hervor. Aus der Nähe zeigt sich, dass es Bruchstücke von Autoscheinwerfern sind. Dieser Anhäufung von Materialien fügen die Künstler über den Werktitel eine erste Sinnebene hinzu. Mit ihrem Einfallsreichtum stossen sie auch die Fantasie des Publikums an und suggerieren, dass es auf einer Bergstrecke zu einem Unfall kam. Blechschaden gab es ganz sicher. Vielleicht lief auch Frostschutzmittel aus. Bestenfalls hat sich das „Drama“ aber nur im Bereich des Anekdotischen abgespielt und beschränkt sich auf die zerbeulte Karosserie.

Nicht auf Anhieb ersichtlich ist, dass das Ungestalte – der Zustand zwischen Form und Nichtform – auch die Genese des Werks bestimmt. Wird die Arbeit gezeigt, wird ihr Hauptelement, die kristalline pinke Substanz, nämlich immer neu und somit auch stets etwas anders erzeugt. Als magische Zutat jeder Formwerdung dient dabei flüssiger Kunstdünger. Dieser wird über die Lampenfragmente gepumpt und blüht mit der Zeit aus. So wächst auf der Halde zertrümmerter Artefakte allmählich der Kunstberg heran. Ein Monte Rosa aus der Retorte. Synthetisches Alpenglühen.

In seiner halluzinogenen, artifiziellen Schönheit führt der „Bergunfall“ den Kern der Kunst von Steiner/Lenzlinger exemplarisch vor Augen: das Verhältnis von Natur und Zivilisation. Manchmal überwiegt dabei wie in ihren hängenden Gärten und verwunschenen Grotten das Naturprinzip; manchmal geht die Werkidee eher von der Sphäre des Menschen, von seinen Forschungen und Erfindungen aus. Kennzeichnend ist, dass die wissenschaftlichen und technologischen Aspekte am Ende stets hinter die Poesie der Erscheinung zurücktreten. Bezeichnend ist ebenfalls, dass den Werken infolgedessen eine hohe Assoziationskraft und Deutungsoffenheit innewohnt.

So umfasst der „Bergunfall“ aufgrund seiner Ausführung als Tischskulptur über das Episodische hinaus etwas Modellhaftes. Dies gilt umso mehr, als die Arbeit im Vergleich mit den materialreichen, raumfüllenden Installationen, für die Steiner/Lenzlinger bekannt sind, fast schon bescheiden daherkommt. Allein das Bergthema gibt aber auch diesem Werk eine monumentale Dimension und schreibt es dem eingangs bereits erwähnten, für die Kunst der Schweiz so zentralen Kapitel der Gebirgsdarstellungen ein.

Mit diesem Kippmoment zum Monumentalen kommt auch der Aspekt des Erhabenen hinzu und mit ihm der Name Edmund Burke. Im Traktat „A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful“ (1757) hat der englische Denker einst das erschreckend Schöne erstmals vom reinen Schönen abgegrenzt. Auf die Formel „delightful horror“ gebracht, erscheint dieses Wirkprinzip im „Bergunfall“ originell aktualisiert.

Auch das Ewige, das man mit Bergen verbindet, erhält in den Kristallen ein Äquivalent. Ebenso ist im Umstand, dass die Scheinwerfertrümmer von der „Natur“ überwuchert werden, ein Element der Langfristigkeit zu erkennen. Diesen beiden Sichtweisen steht der Augenblick des Unfalls gegenüber, das Punktum des Aufpralls und Zerschellens. Vielleicht hat sogar der Berg selbst den Unfall erlitten: einen Felssturz oder eine Art von Bodenverflüssigung, die die drohende Auflösung der Arbeit beim Abbau vorwegnimmt. In dieser Hinsicht lässt die Unfallthematik last but not least an Paul Virilio denken, den Theoretiker der unheilvoll beschleunigten Welt. Virilio zufolge verändert nämlich der technische Aufschwung auch unseren Blick, da der stete Tempozuwachs immerzu flüchtigere Bilder generiert. Die Welt kollabiert also gleichsam vor unseren Augen und wird so zum Spiegel unserer Verfassung. Wir sind eingebremst und erleben den rasenden Stillstand. In diesem Crash kulminiert der Clash von Natur und Zivilisation.

Astrid Näff

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