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Ernst Ludwig Kirchner, Der Wanderer, 1922
Öl auf Leinwand, 90 x 151 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau / Legat Dr. Othmar u. Valerie Häuptli
Copyright: VG-Bild-Kunst

Davos soll eigentlich nur das Ziel eines Kuraufenthalts sein, als Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) im Januar 1917 erstmals im Bündner Dorf eintrifft. Als Artillerist im Ersten Weltkrieg hatte Kirchner schwerwiegende psychische und physische Probleme davongetragen. In der Folge sind verschiedene Sanatoriumsaufenthalte notwendig, die ihn unter anderem in die Schweiz führen. Trotz starker Beschwerden malt er dabei unentwegt weiter und entschliesst sich 1918, in Davos sesshaft zu werden. Eines der ganz wichtigen Werke aus der frühen Davoser Zeit ist „Der Wanderer“ von 1922. Zusammen mit drei weiteren Kirchner-Werken findet es über das Legat von Othmar und Valerie Häuptli Eingang in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses.

Ist es an Kirchners vormaligen Wohnorten Dresden und Berlin das Grossstadtleben, das den Künstler umtreibt, so wird dieses in Davos von der Schweizer Alpenwelt abgelöst. Auf die bekannten Strassenbilder folgen monumentale Bergpanoramen und ländliche Szenen. Häufig sind die dargestellten Landschaften und Örtlichkeiten lokalisierbar, nicht so jedoch beim „Wanderer“. Der gebeugt am Stock gehende Mann bewegt sich in unbekanntem Terrain, eingekesselt zwischen Berghängen. Die braune Strasse, auf der er vom Horizont her dem Betrachter entgegenschreitet, teilt das Bild in zwei Hälften. Am linken Hang ist eine kleine Wegkapelle zu erkennen, während im Hintergrund die verschneiten Silhouetten einer Bergkette die Trennung zum blaugrünen Himmel markieren. Die Idee zu diesem Bild muss Kirchner bereits 1918 gehabt haben. In einem Brief an den belgischen Architekten, Designer und Kunsttheoretiker Henry van de Velde (1863–1957), den Kirchner im Vorjahr in Davos kennengelernt hatte, schreibt er: „Wie geht es Ihnen, Sie ewiger Wanderer. Auf der Alp möchte ich Sie als den ewigen Wanderer malen, diesmal in ganzer Figur zwischen den Bergen stehend.“ Im Sommer 1919 folgt ein Tagebucheintrag, worin er fünf Bildthemen nennt, die er bald realisieren möchte, unter anderem den „Wanderer“. Es soll aber nochmals drei Jahre dauern, bis er das Gemälde tatsächlich malt. Von der Fertigstellung des Werks berichtet Kirchner schliesslich im Dezember 1922 in einem Brief an Henry van de Veldes Tochter Nele: „Ich male jetzt fast nur so, kaum mehr von der Natur. So habe ich den Wanderer gemalt, weite Berglandschaft, gerade Strasse zwischen Ödland. Darauf der Mann gebeugt gehend.“ Das Bild wird kurze Zeit nach der Fertigstellung an Heinrich Staub in Clavadel verkauft. Hierüber zeigt sich der Künstler im gleichen Brief verwundert und führt aus, worin sein Streben gelegen hat: „Ich staune sehr, dass so etwas gekauft wurde. Ich kämpfe um grosse ruhige Flächen und tiefe volle Farben. Ich will mehr geben als nur Seherlebnisse.“ Letzterer Kommentar macht deutlich, dass Kirchners Anspruch den einer mimetischen Schilderung übersteigt. Aufgrund der zitierten Briefstelle könnte man zwar annehmen, beim Mann im Bild handle es sich um Henry van de Velde – die Komposition scheint sich aber auch auf eine Fotografie zu beziehen, die Kirchner von einem älteren Bauern aus der Nachbarschaft angefertigt hat. Nicht zuletzt trägt die Figur Züge von Kirchner selbst. Donald E. Gordon, der Verfasser des Werkverzeichnisses der Gemälde, deutet „Den Wanderer“ denn auch als „existentielles Porträt des Künstlers selbst“, der in „fast archetypischer Form die Entfremdung des modernen Menschen innerhalb einer geordneten, aber im Wesen unmenschlichen Umwelt deutlich werden [lässt].“

Yasmin Afschar

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