Öl auf Leinwand (Leinwand rückseitig elfenbeinfarben gefasst oder grundiert), 115.7 x 110.5 cm
Von Paul Camenisch (1893–1970), der zunächst als Architekt tätig war, sind heute vor allem seine frühen, einen wichtigen Beitrag zur Expressionismus-Rezeption in der Schweiz leistenden Werke bekannt: seine leuchtenden, fantastisch anmutenden Architekturaquarelle, die vom Wissen um damalige Architekturtheorien und -utopien künden, sowie seine energischen, den Einfluss Ernst Ludwig Kirchners (1880–1938) um 1928 überwindenden Figurenbilder und Tessiner Landschaften aus der Zeit der Künstlergruppe “Rot-Blau“. Nach diesem impulsiven Frühwerk entwickelte Camenisch in den 1930er-Jahren, in die auch die Gründung der lange von ihm präsidierten “Gruppe 33“ fiel, einen koloristisch gesteigerten Realismus. Dieser hielt bis Ende der 1950er-Jahre an und wurde zur ausgefallenen Mischung linksaktivistischer Parteinahme und bürgerlich-kulturaffiner Szenen aus dem eigenen Leben. Einen letzten markanten Wandel erfuhr das Schaffen des Künstlers zu Beginn der 1960er-Jahre. Der Stil blieb gleich, thematisch aber löste ein idealistischer Naturalismus den zuvor gepflegten Realismus ab – eine Entwicklung, die rückblickend schon im Grossformat Diskussion im Atelier (1941–1943) auszumachen ist, einem Hauptwerk der mittleren Werkphase, in dem sich Camenisch als Autor einer Idylle mit zwei weiblichen Akten präsentiert, derweil die Tischrunde der Freunde über den Krieg debattiert.
Tonangebend wird dieser späte Idealismus mit der Arbeit am Bild “Das geliebte Leben“ (1961–1963). Eine vorbereitende Ölskizze dazu kam 2017 mit der umfangreichen Schenkung ins Haus, die der Kunstverein von den Erben des Künstlers entgegennehmen durfte. In dieser hat Camenisch in schnellen, an die expressionistischen Jahre erinnernden Pinselstrichen eine Landschaft skizziert, die im Vordergrund links eine dunkle, vegetationsreiche Zone zeigt, in die ein nackter Jüngling und einige Tiere – ein Bär, ein Fuchs, ein Steinbock und eine Raubkatze – eingebettet sind. Rechts davon öffnet sich das steile Terrain auf eine Seenplatte mit einer Landzunge, wo sich weitere Tiere tummeln. Am Himmel kreisen Vögel.
In der Endversion hat der Künstler diese Ausgangsidee zum Querformat erweitert und am rechten Seeufer eine von zahlreichen Vogelpaaren umgebene nackte Frau eingefügt. Ihr gilt sämtliches Sehnen. Die dunkle – männliche – Zone ist nun als Felswand lesbar, am Horizont überragt das schneebedeckte Panorama der Walliser Viertausender zwischen Monte Rosa und Matterhorn neu die vorgelagerten Bergketten. Die vormals zeit- und ortlose Landschaft ist folglich ein helvetisches Eden geworden. Mehr noch: Camenisch, der die Berge liebte und von 1956 bis 1961 jährlich zwei Monate malend im Wallis verbrachte, wo er mit Frau und Freunden auch anspruchsvolle Routen beging, offenbart uns hier sein persönliches Paradies. Noch deutlicher wurde er nur noch einmal: zu seinem 70. Geburtstag mit dem eng verwandten Spätwerk “Der lachende Alte (Selbstbildnis mit Adam und Eva im Paradies) “ (1963).
Astrid Näff, 2018