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Franz Wanner, Giornate IX, 29.1.2017 (nach Jan Gossaert gen. Mabuse, Danae, 1527; aus der Serie "Giornate"), 2017
Pariserblau-Pigmente, Marmorsand und Acryl auf Leinwand, 281 x 180 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau / Schenkung Franz Wanner
Fotocredit: Brigitt Lattmann

Über fünf Quadratmeter misst das Bild „Giornate IX“, das Franz Wanner (*1956) am 29. Januar 2017 malte, und zwar als vorletztes einer zehnteiligen Reihe, die er sieben Tage zuvor in Angriff genommen hatte. Zählt man alle Bildmasse zusammen, kommt man auf über sechzig Quadratmeter: eine Fläche, die allein schon aufgrund ihrer Grösse eine Art Historienmalerei vermuten lässt respektive an die Tradition der Wand- und Freskenmalerei anschliesst. Diesen zweiten Bezug stellt auch das Wort „Giornate“ her, der terminus technicus für das Tagwerk der Freskenmaler. Spontan ergibt sich so eine Verbindung zu vergangenen Epochen, insbesondere zur Renaissance. Das Einzelwerk, welches das Datum seiner Entstehung auch im Titel trägt, wird somit umgehend als Resultat einer nur im Zusammenspiel mit der Vergangenheit begreifbaren Gegenwart präsentiert. Zugleich liefert der Serientitel den nicht weniger wichtigen Hinweis auf das Handwerk. Denn, so Wanner: „In der Differenz zwischen Konzeption und Ausführung, in diesem Dazwischen erst stellt sich das Werk des Künstlers ein.“

Setzt die Werkgenese mit der Idee und deren Umsetzungskonzept, dem disegno ein, so steht bei der Werkrezeption der Sehakt am Anfang. Bei der „Giornate“-Serie liegt die Ausdruckskraft im Mut zu viel leerer Fläche, was durch das Einbinden kostbarer mineralischer Pigmente wie Caput Mortuum, Malachit, Veroneser Grünerde oder Umbra kompensiert wird. Im vorliegenden Fall zeigt der Grossteil des Bildes nicht mehr und nicht weniger als einen fast monochromen, leicht wolkigen, tiefblauen Grund. Unten rechts hat der Künstler mit rascher Geste im Stil einer Untermalung eine sitzende Figur angelegt. Auf Gesicht, Brust, Teile der Arme und die gekreuzten Unterschenkel fällt Licht, so dass der Blick des Betrachters von den nackten Hautstellen wie magisch angezogen wird. Der Blick der Figur geht hingegen nach oben, aus ihrer linken Hand scheint etwas zu Boden zu rieseln. Offen bleibt, ob das Bildschema komplett, das Bild fertig ist oder nicht. Offen bleibt ebenfalls, wer dargestellt ist. Antworten auf diese Art Fragen vermag das Werk nicht zu liefern. Es bleibt stumm respektive verweist auf seine eigene Machart, auf seine Natur als Bild.

Der inhaltliche Zugang muss folglich auf dem Wissensweg, über das Konzept und dessen kunsthistorische Ableitung erfolgen: ein Drahtseilakt für jemanden wie Wanner, der fest an die Begegnung mit dem Original und das Primat des Sehens glaubt. Hilfe leistet der Titelbestandteil in Klammern, der das heute in der Alten Pinakothek in München befindliche Gemälde „Danae“ (1527) des flämischen Meisters Jan Gossaert gen. Mabuse (1478–1532) ins Spiel bringt und so eine weitere Verbindung zur Renaissance legt. Dargestellt ist in diesem nicht einmal halb so grossen Bild der Moment, in dem sich Zeus in Gestalt eines Goldregens mit Danaë, der Königstochter von Argos, vereint und Perseus zeugt, den Bezwinger der Medusa. Gossaert hat die Szene in eine Rundnische mit zauberhaftem Ausblick auf edle Palastarchitektur seiner Zeit verlegt. Die ambivalente Annäherung des Göttervaters an die jungfräuliche, von ihrem Vater aus Angst vor einem Orakelspruch weggesperrte Danaë, wie sie die Mythologie überliefert, hat er so auf raffinierte Art und Weise aktualisiert. Wanner seinerseits übernimmt von der preziösen Gestaltung wie bei jedem Bild der „Giornate“-Serie nur die Pose des Mädchens und lässt allen Zierrat weg. Damit lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Blickführung und die Tatsache, wie sehr diese quer durch die Epochen von Schaulust und männlichem Begehren dominiert wird. Selbst keusche Figuren wie die häufig als Präfiguration Marias verstandene Danaë oder die Hlg. Lucia, die im „Giornate“-Zyklus mit einem sinnlich aufgeladenen Nackenbild von Francesco Furini (1600–1646) vertreten ist, sind davon nicht ausgenommen. In diesem fetischierten, dem Blick ausgesetzten Körper liegt das eigentliche Skandalon der fast ausnahmslos als Skandalwerke in die Kunstgeschichte eingegangenen Bilder, die Wanner für die „Giornate“-Serie ausgewählt hat. In der entlarvenden Reihung und der vom Künstler an die Grenze getriebenen formalen Reduktion können Sehen und Denken nicht mehr ausweichen. Oder, wie Wanner einmal meinte: „Kunst ist Form: eine Geste, die auf den Verstand gerichtet ist.“ Kein Sujet scheint besser geeignet, diesen Satz zu hintersinnen.

Astrid Näff

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