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Franz Wanner, Giornate V, 26.1.2017 (nach Hans Baldung Grien, Aristoteles und Phyllis, aus der Serie "Giornate"), 2017
Veroneser Grünerde, Marmorsand und Acryl auf Leinwand, 280 x 208 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau

Grundlegende Fragen zum Wesen der Kunst bestimmen das Oeuvre von Franz Wanner (*1956). Was sind ihre Inhalte? Worin liegt ihre Kontinuität? Und wie lässt sich die Überzeugung, dass Kunst im Endeffekt stets aus sich selbst heraus entsteht und im Moment ihres Werdens Teil eines überzeitlichen Ganzen wird, bildnerisch vermitteln? Eine erste Antwort gibt Wanner bereits in den 1980er-Jahren. Vor nicht-räumlichen, quasi-monochromen Farbgründen isoliert er Artefakte wie Schalen und Trinkgefässe, zum Objekt gewordene Natur und Figürliches wie aufgesockelte Tiere. So umreisst er zum einen die Zivilisationsgeschichte und verweist auf die Gattungen der Kunst, zum andern macht er klar, dass Form, Farbe und Fläche bei jeder Ausführung eines Werks eine unauflösbare Einheit bilden. Folgerichtig erweitert Wanner seinen Ansatz in den 1990er-Jahren auf die Abstraktion. Von diesem, wie er findet, historisch letztmals relevanten Punkt kehrt er jedoch 2008 über das Thema des Ateliers als Ort der Bildwerdung wieder zur gegenständlichen Darstellung zurück. Zugleich erschliesst er sich mit diesem Kunstgriff die Kunstgeschichte noch dezidierter.

In diese Entwicklung reiht sich die zehnteilige Bildfolge „Giornate“, die Wanner im Januar 2017 in nur acht Tagen malt, stimmig ein. Erstmals zu sehen ist sie im Sommer des gleichen Jahres bei Flurina und Gianni Paravicini in der Galleria Edizioni Periferia in Luzern. Ihr Titel verweist auf das Tagwerk der Freskenmaler, auf die Fläche, die sich je nach Detailreichtum der Szene al fresco gestalten lässt, bevor der Putz eintrocknet. An die Stelle der Wand tritt bei Wanner jedoch die grossformatige Leinwand, die er früh schon für sich entdeckt hat und die er hier nutzt, um mit flüssigem Duktus einige vielfach miteinander verknüpfte Skandalwerke der Kunstgeschichte zu paraphrasieren. Zur Auswahl zählen etwa Velázquez‘ Rückenakt „La Venus del espejo“ (1648–1651) und Goyas „Maya desnuda“ (1795–1800), die ebenso wie Manets „Olympia“ (um 1863) letztlich alle drei auf Giorgiones „La Venere dormiente“ (1508–1510) zurückführbar sind. Weiter finden sich Manets „Le déjeuner sur l’herbe“ (1863), Francesco Furinis Porträt der Hlg. Lucia (um 1630), Jan Gossaerts „Danae“ (1527), ein Atelierporträt Raffaels von Marcantonio Raimondi sowie eines der tabulos expliziten Blätter aus Giulio Romanos und Raimondis „I modi“ (um 1550). Alle Beispiele verbindet ihr mehr oder weniger offen erotischer Gehalt sowie die Frage, wie der Künstler den Blick auf den weiblichen Körper sexualisiert.

Das vorliegende Motiv, das fünfte der Reihe, variiert die Thematik auf ganz eigene Art, indem es die üblichen Geschlechterklischees umkehrt. Es zeigt Phyllis, die mit Alexander, dem künftigen Eroberer, liiert ist, und die dessen Lehrer Aristoteles aus Rache dafür, dass er die beiden des Lernens wegen auseinandergebracht hat, zuerst verführt und dann demütigt, indem sie ihn in zum Reittier degradiert. Wanner folgt hier der späteren von zwei Illustrationen Hans Baldung Griens, also dem Holzschnitt von 1513. Damit wählt er die einzige Variante des populären Motivs, die beide Figuren ganz nackt wiedergibt. Wie immer lässt er alle Details der Vorlage weg – kein Schlosspark, kein Zaumzeug, keine Peitsche, kein Tand. So stellt er nicht nur sicher, dass er den engen Zeitrahmen der giornate einhalten kann, er schafft damit auch den nötigen Leerraum, um das Werk für neue Inhalte zu öffnen. Steht bei der spätmittelalterlichen Fassung das Thema Weibermacht im Zentrum – einige Illustratoren charakterisieren Phyllis gar als Dirne –, so verleitet bei Wanner die Unschärfe der Figuren zunächst dazu, die Frau in erniedrigter Pose zu vermuten, ihre Rolle als Objekt der Begierde also zu zementieren. Nicht der Mann, sondern die Frau führt jedoch die Zügel: eine Perversion, die dazu anhält, das Gesehene zu revidieren und dabei auch das Blickregime Hans Baldung Griens nochmals zu reflektieren – mit dem Resultat, dass man sich bewusst wird, wie betont voyeuristisch das Sujet trotz der augenscheinlich weiblichen Dominanz daherkommt. Eine griffige Antwort sollte im Grunde erst Valie Export (*1940) finden, als sie Peter Weibel (*1944) im Februar 1968 im Rahmen einer bemerkenswerten Aktion an einer Hundeleine auf allen Vieren durch Wien spazierenführte.

Astrid Näff

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