Wurst zwischen weissem und blauen Papier in Plastiktasche, 43 x 32 cm
Kaum ein anderer Künstler, eine andere Künstlerin des 20. Jahrhunderts hat einen derart reichhaltigen, kaum überblickbaren künstlerischen Kosmos geschaffen, in dem Werk und Leben aufs Engste verwoben sind, wie Dieter Roth (1930–1998). Als Universalkünstler versuchte sich Roth an einer ausserordentlichen Medienvielfalt, die von Malerei, Druckgrafik, Zeichnung und Collage über Fotografie, Video und Installation bis hin zu Schmuck- und Möbeldesign, Buchkunst, Literatur und Musik reicht – stets im Bemühen einer Entgrenzung der etablierten Gattungsbegriffe. Beispielhaft für diese Strategie sind Roths Experimente mit Lebensmitteln, die er primär in den 1960er-Jahren unternimmt. Im Zeichen einer totalen Befreiung von formalen Konventionen werden zum Beispiel Bananen auf Bildträger gepresst, Käsestücke zu Türmen aufgestapelt und Figuren aus Schokolade gegossen – darunter die Selbstporträtbüste „P.O.TH.A.A.VFB.“ (1968), die sich ebenfalls in der Sammlung des Aargauer Kunsthauses befindet. Der Veränderungsprozess des verwesenden Materials ist dabei zentraler Ausdrucksträger, er ist gleichermassen einkalkuliert wie dem Zufall unterworfen.
Mit „Kleiner Sonnenuntergang“ (1970) bedient sich Roth eines klassisch romantischen Topos und bricht diesen zugleich augenzwinkernd. Zwischen zwei dicke Blätter farbigen Papiers ist eine Salamischeibe geschoben, sodass sie vorne und hinten nur je zur Hälfe sichtbar ist. Das abgegebene Fett wird ringsum vom Papier aufgesogen und erzeugt einen unregelmässigen Nimbus, der die Wurstscheibe scheinbar erstrahlen lässt. Durch den Einschluss in eine transparente Plastikhülle enden die biologischen Vorgänge, sobald der Sauerstoff darin verbraucht ist. Nach diesem Prinzip entstehen auch „Mittlerer Sonnenuntergang“ und „Grosser Sonnenuntergang“ (beide 1968), jeweils als Multiple in einer Auflage von 25 bis 30 Exemplaren. Angefertigt werden sie von Rudolf Rieser, einem befreundeten Buchbinder in Köln, mit dem Roth für viele Werke zusammenarbeitet. Der Künstler überlässt damit die finale Form der Werke zweifach einer anderen Instanz: zum einen dem Hersteller und zum anderen den organischen Zersetzungsprozessen. Obwohl die Sonnenuntergänge als Multiples angelegt sind, bildet jedes Exemplar ein Unikat, dessen finales Erscheinungsbild von unterschiedlichen Faktoren abhängt und teilweise stark von den anderen Versionen differiert. Mit den Sonnenuntergängen schafft Roth eine neue Form der Landschafts- und Naturdarstellung – ausgehend von alltäglichem, minderwertigem und vergänglichem Material, das per se keinen ästhetischen Wert besitzt. Ihr Reiz liegt gerade in der Unvollkommenheit der künstlerischen Mittel und der Simplizität der Machart. Im Vordergrund steht dabei nicht die Materialprovokation als solche, sondern das poetische Potenzial, das dem Werkstoff innewohnt, und die fantastische Bildwelt, die sich dadurch auftut.
Raphaela Reinmann, 2018