Bronze, 63.5 x 20 x 24 cm
Der in Duisburg geborene Wilhelm Lehmbruck (1881–1919) zählt in der Kunstgeschichtsschreibung zu den bedeutenden Vertretern der expressionistischen Plastik. Als einziger deutscher Bildhauer der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlangt Lehmbruck bereits zu Lebzeiten internationales Ansehen. Dank der umfangreichen Werkgruppe deutscher Expressionisten aus dem Besitz von Dr. Othmar und Valerie Häuptli gelangen 1983 drei Bronzearbeiten als Legat in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses.
Nach dem Besuch der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule studiert Lehmbruck von 1901 bis 1906 an der dortigen Akademie in der Meisterklasse Carl Janssens (1855–1927). Er beteiligt sich an Ausstellungen in seiner Heimat und auch in Paris, wo er von 1910 bis 1914 lebt.
Die vorliegende Bronze entstammt dieser Zeit in der französischen Hauptstadt und bildet ein spätes Beispiel von Lehmbrucks klassizistischer Figurenauffassung. Zu Beginn seiner Studienzeit sind Skulptur und Plastik von Naturalismus und Historismus bestimmt. Gleich anderen Bildhauern wie Auguste Rodin (1840–1917), Jules Dalou (1838–1902), Constantin Meunier (1831–1905) oder Adolf von Hildebrand (1847–1921) versucht Lehmbruck, den gängigen Lehren entgegenzuwirken. Nach einer von Eklektizismus geprägten Phase zwischen 1904 und 1911, in der Lehmbruck unterschiedlichste künstlerische Impulse verarbeitet, dringt er 1911 mit der „Knienden“ zu seiner unverkennbaren Formensprache vor. In der Überlängung manifestiert sich ein typisches formales Merkmal von Lehmbrucks Schaffen, und sie zeugt von seinem Bestreben, die Figur als Träger psychischer Stimmungen zu erfassen. Lehmbruck gelangt zu nach innen gewandten, verletzlichen Darstellungen des Menschen, die im Gegensatz zu den emotional expressiveren Arbeiten des von ihm bewunderten Rodins stehen.
Unsere Plastik gibt den stehenden Akt einer weiblichen Figur mit gesenktem Kopf wieder, die das linke Bein auf einem Gesteinsbrocken abstützt und die Arme in schützender Haltung eng vor ihrem Oberkörper hält. Von „Mädchen mit aufgestütztem Bein“ existieren Ausführungen in Gips und Bronze, welche die Frage nach Authentizität aufwerfen: Die Bronzen wurden von unterschiedlichen Giessereien als Nachgüsse oder Neugüsse im Auftrag der Witwe und der Söhne Lehmbrucks hergestellt – einige, zu denen auch unsere postum gefertige Figur zählt, weisen keinen Stempel auf. Eine zusätzliche Unbekannte ist das von Lehmbruck eigentlich vorgesehene Material. Wendet sich Lehmbruck während der Studienzeit den typischen Materialien Gips, Ton, Marmor und Bronze zu, experimentiert er in Paris zusammen mit seinem Künstlerfreund Constantin Brancusi (1876–1957) mit avantgardistischen Techniken wie Stein- und Zementguss. Es handelt sich dabei nicht um eine Notlösung aufgrund fehlender finanzieller Mittel. Die Materialien kommen den bildnerischen Bestrebungen Lehmbrucks entgegen, in farblicher Hinsicht vielfältige Wirkung zu erzeugen.
Karoliina Elmer