Holzschnitt auf Papier, 61.3 x 44 cm
Ein Porträt eines Mannes mit überproportional grossem Kopf, einer hohen Stirn und einem nach unten spitz zulaufenden Gesicht. Die Hände gefaltet, blickt er ernst und nachdenklich, gänzlich in sich versunken. Die schwarzen Flächen des Oberkörpers und der Haare kontrastieren mit den hellen Farbfeldern im Hintergrund und betonen die olivgrau gehaltene Haut, die den Mann kränklich erscheinen lässt. Es ist ein ungeschöntes Selbstporträt, das der deutsche Künstler Erich Heckel (1883–1970) nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gestaltet und mit dem Titel „Männerbildnis“ (1919) versieht. Der Farbholzschnitt gilt als eines der besten Selbstbildnisse Heckels und als ein wichtiges Zeugnis der Meisterschaft der deutschen Expressionisten im Bereich der Druckgrafik.
Der autodidaktische Künstler beginnt bereits als Gymnasiast, sich mit der jahrhundertealten und in Deutschland traditionsreichen Technik des Holzschnitts auseinanderzusetzen. In der Künstlergruppe „Brücke“ (1905–1913), als deren Geschäftsführer Heckel heute oft bezeichnet wird, kommt der Druckgrafik besondere Bedeutung zu. So wird das Programm der Gruppierung in Holz geschnitzt, und die Künstler stellen zahlreiche Mappen mit druckgrafischen Arbeiten her, die an die passiven Mitglieder verteilt werden. Die Tätigkeit des Holzschnitts erfordert Konzentration, jeder Schnitt zu viel kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Heckel fertigt in seinem Künstlerleben Hunderte von Holzschnitten und erlangt darin eine Virtuosität, die ihresgleichen sucht. Er bearbeitet die unterschiedlichsten Holzarten und wendet verschiedene Techniken an, so etwa das Zersägen der Farbplatten: Die einzelnen Teile werden mit verschiedenen Farben bemalt und für den Druck wieder zusammengefügt. Auf diese Weise ist auch das „Männerbildnis“ entstanden.
Aufgrund seines Entstehungsdatums kann das Werk als persönlicher Rückblick auf die Schreckensjahre des Krieges gesehen werden. Heckel meldet sich 1914 freiwillig zum Militärdienst, wird aber als untauglich eingestuft und folglich als Sanitäter in Flandern stationiert. In diesen Jahren nimmt seine künstlerische Produktion keinen Abbruch. In der knappen Freizeit während seines Einsatzes schafft Heckel zahlreiche Werke, die zwar den von Krieg und Elend geprägten Menschen zeigen, jedoch nicht die expliziten Gräuel der Gefechte. Schonungslos, aber im gleichen Masse mitfühlend stellt der Künstler die Soldaten – Verwundete, Kranke und Sterbende –, Ärzte, Pfleger und Zivilisten dar. Deren Gesichter sprechen von Erfahrungen und Erlebnissen, die kaum in Worten wiedergegeben werden können. Das „Männerbildnis“ ist aber nicht nur individuelles Resümee dieser für den jungen Heckel prägenden Jahre. Neben dem individuellen Ausdruck führt das Bildnis in seiner Reduktion exemplarisch einen Zustand der Reflexion vor Augen.
In den Jahren nach 1920 verliert die Druckgrafik sowie die Darstellung des Menschen für Heckel vorerst an Bedeutung. Ab 1933 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs entstehen keine Holzschnitte mehr – eine Ausnahme bilden die Jahresholzschnitte, die Heckel an seine Freunde verschickt. Und auch wenn Heckel nach 1945 erneut mit der Arbeit in Holz beginnt, bleiben vor allem seine frühen, während der „Brücke“-Zeit und bis 1920 entstandenen grafischen Werke in Erinnerung.
Bettina Mühlebach