Öl auf Leinwand, 89 x 70 cm
Die aufs Jahr 1903 datierten Landschaftsbilder „Mattina d’estate (Sommermorgen)“ und „Sera d’autunno“ werden in den Sammlungspräsentationen des Aargauer Kunsthauses oft als jahreszeitliches Stimmungspaar gezeigt. Auf beiden Gemälden blicken wir vom Tal her einen Flussstrom hinauf, über Wiesen, Buschlandschaften und darin eingebettete Häuser – hoch, zu einer den Horizont bezeichnenden Bergkette. In der sommerlichen Darstellung scheinen wir uns als Betrachtende inmitten einer Blumenwiese zu befinden. Am linken Bildrand tauchen die sonnenbestrahlten Häuserfronten eines Dorfs auf. Im Herbstbild „Sera d’autunno “ liegt der Betrachterstandpunkt etwas höher und weiter weg. Ein längeres Stück des Flusslaufs wird sichtbar und die entfernten Häuser erscheinen in der braun-violetten Heide lediglich als weisse Tupfer.
Giovanni Giacometti (1868–1939) schildert hier einen Abschnitt des dreissig Kilometer langen Val Bregaglias, das von der Oberengadiner Seenplatte, sprich von Maloja, bis hinunter ins italienische Grenzdorf Castasegna führt. Das angedeutete Dorf auf den Bildern lässt sich als Giacomettis Heimatdorf Stampa verifizieren. In seiner Malerei spiegelt sich die ungebrochene Verbundenheit zu diesem wildromantischen Tal wieder, das von dem Fluss Maira durchströmt und von spitzen Bergen gesäumt wird. Abgesehen von seinen frühen Studienjahren in München und Paris lebt und arbeitet Giacometti zeitlebens im Bergell und Oberengadin. Im Winter malt er das Leben im verschatteten Tal, im Herbst und Sommer die von Licht und Vegetation bunt erleuchteten Szenerien auf den Heiden und in den Stuben der Talbewohner*innen. Giovanni Giacometti trägt durch sein Einbringen des Kolorismus – eine Generation nach Ferdinand Hodler und Giovanni Segantini – entscheidend zum Aufbruch der Schweizer Moderne bei. Die Intensivierung von Farbe und Licht durchdringen sein gesamtes Werk, wobei er sich verschiedener stilistischer Mittel bedient. Am Anfang steht sein Interesse an der französischen Plenair-Malerei. Dieses wird während seines Studiums in München mitunter durch den Besuch der internationalen Kunstausstellung im Münchner Glaspalast 1888 geweckt. 1888 bis 1891 besucht er die Académie Julian in Paris und lebt in einer Atelier- und Wohngemeinschaft mit dem gleichaltrigen Solothurner Cuno Amiet, den er in seinem Münchner Studium kennengelernt hat. Die Sommermonate verbringen die Freunde in Stampa und Solothurn. 1891 reist Amiet in die bretonische Künstlerkolonie in Pont-Aven, wo er im Kreise der Gauguin-Nachfolger ein lehrreiches Jahr verbringt. Giacometti hingegen reist zurück in die Schweiz, wo er in eine künstlerische Krise stürzt. Sein Vorhaben, sich zwei Jahre später in Rom als selbständiger Künstler zu behaupten, scheitert. Wenngleich kaum Bilder aus der Italienzeit geblieben sind, so ist es dennoch das südliche Licht, welches von da an zu einer Aufhellung seiner Farbpalette führt. Den Ausweg aus der Krise bringt 1894 die Begegnung mit dem in Savognin ansässigen Italiener Giovanni Segantini (1858–1899). Giacometti eignet sich dessen Errungenschaft, die divisionistische Malerei an, bei welcher Komplementärfarben in feinen Strichen nebeneinandergesetzt werden. Segantinis Tod trifft Giacometti hart, befreit ihn aber auch von dessen dominantem Vorbild und weist ihm den Weg zu einer eigenständigeren Gestaltungsweise. Hierbei kehrt er sich von dem dichten, gewebartigen Divisionismus ab, hin zu einer freieren, flockigeren Tupftechnik – dem Pointilismus. Doch auch dieser Technik bleibt er nur eine kurze Phase verbunden, während sich ein expressiverer Pinselduktus und eine kühne Koloristik zu den eigentlichen Merkmalen seiner Malerei entwickeln.
Die beiden Landschaftsbilder fallen sichtbar in eine Zeit des Übergangs, der Suche nach dem eigenen Stil: Während in „Sera d’autunno“ das divisionistische Erbe in allen Naturformen und Texturen nachklingt, flackert der gestrichelte Pinselduktus in „Mattina d’estate (Sommermorgen)“ nur partiell als Flimmern des gleissenden Sommerlichts auf Gräsern und Bäumen auf. Viele Elemente werden dagegen flächig, fast scherenschnittgleich behandelt. Über die Wahl unterschiedlicher Techniken gelingt es dem Maler, zu spiegeln, wie je nach Tages- und Jahreszeit ein und dieselbe Landschaft als lieblich-weich oder aber als konturiert-markant aufscheint.
Julia Schallberger