Öl auf Tonpapier auf Karton, 152.3 x 119 cm ok
Dem Blick auf die unzählbaren Lichtpunkte am dunkelblau gefärbten Himmel ist nicht zu trauen. Denn ebenso zufällig ausgestreut wie sorgsam angeordnet scheinen die am nächtlichen Gewölbe aufblitzenden Sterne in Beatrix Sitter-Livers (*1938) Werk „Filamente“ von 1997. Das Ölgemälde, das als Geschenk der Künstlerin 2018 in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses gelangte, entstammt der Serie „Sternspiele“ und veranschaulicht zugleich jene Grundkonstante, die sich durch die thematisch definierten Werkgruppen zieht: Sitter-Livers Interesse an der Natur, sowohl an deren Strukturen und Ordnungen wie auch an deren Unstetigkeit und Transformation. In diesem Spannungsfeld entwickelt die Künstlerin ihr vielgestaltiges Œuvre aus Textilkunst, Ölmalerei, naturbezogenen Experimenten sowie raumgreifenden Installationen und konzeptuellen Arbeiten für den öffentlichen Raum, die – wenn auch lückenhaft – von Zeichnungen und Druckgrafiken begleitet werden.
Letztgenannte Medien stehen denn auch am Anfang ihrer Lehr- und Wanderjahre in den USA, in Island, Malta und Deutschland sowie in Bern, wo sie als Grafikerin arbeitet. Zu Beginn der 1960er-Jahre beginnt Sitter-Livers experimentelles Arbeiten am Webstuhl, das fortan während zwanzig Jahren im Zentrum ihres Schaffens steht; auf skulpturale Wand- und Raumgestaltungen folgen lichte Gewebe aus Zweigen, Federn und Schilf sowie in den 1980er-Jahren Papierarbeiten und Bücher aus eingewobenen natürlichen Rohstoffen und Farbpigmenten. Diese materialbestimmten Arbeitsformen führen die Künstlerin in den 1990er-Jahren zurück zu den klassischen Medien der Malerei und der Zeichnung. Es entstehen die Bilderketten „Zoom“, in denen Sitter-Liver Land- und Himmelskarten sowie Mikro- und Makroaufnahmen mittels fortgesetzter Reduktion von Bildausschnitten in Linien und Formen übersetzt und so bis zur Unkenntlichkeit führt. Die damit thematisierte Fern- und Nahsicht fordert die Betrachtenden zur Reflexion über Standpunkt und Blickwinkel auf und rückt die Werkgruppe in die Nähe der „Sternspiele“. Denn im Gegensatz zum gegen den Himmel gerichteten Blick in „Filamente“ schweift er umgekehrt – wie in Sitter-Livers „Nachtflug 4“ von 2001 aus dem Aargauer Kunsthaus (Inv.-Nr. 8064) – auch aus schwindelnder Höhe über die Glanzlichter einer urbanen Landschaft. Parallel zur Werkgruppe „Zoom“ widmet sich die Künstlerin ab 1993 für über zehn Jahre den „Idiomen“, in denen ihr Gräser und Zweige als Pinsel dienen. Deren ephemere Spuren, die zwischen Abbildhaftigkeit und spontaner rhythmischer Gestik oszillieren, erzeugen ein virtuoses Netz von kaum beschreibbaren Flecken und feinen Linien.
Dieses Zusammenführen und Gegenüberstellen von Bestimmtheit und offener Deutbarkeit einerseits, von Systematik und Willkür andererseits greift Sitter-Liver auch in ihren „Sternspielen“ auf. Manchen liegt ein festes Raster zugrunde, über das die Künstlerin eine exakte Sternenkarte legt. Bei anderen wiederum ist die entworfene Konstellation rein virtuell, denn die Anordnung der Lichtpunkte am Nachthimmel, die Sitter-Liver in einem zweiten Schritt mit relativ regelmässig gesetzten Punkten ergänzt, ist willkürlich. In ihrer Überlagerung von mathematischen wie chaotischen Strukturen erzeugen die „Sternspiele“ eine sich ausbreitende Stille, in der sich unauslotbare Räume eröffnen. Als grossformatiges Meditationsbild, das uns mit Phänomenen der eigenen Wahrnehmung konfrontiert, war „Filamente“ 2019 in der Ausstellung „Big Picture“ erstmals im Aargauer Kunsthaus zu sehen.
Noemi Scherrer