Öl auf Leinwand, 237.5 x 168.3 cm
In den Anfängen seines künstlerischen Schaffens macht sich Albrecht Schnider (*1958) einen Namen als Maler von Porträts, Figurenensembles und Landschaften. Er gilt als vielversprechender Vertreter einer neuen Figuration. Entsprechend überrascht ist sein Publikum, als er Ende der 1990er-Jahre mit abstrakten Gemälden an die Öffentlichkeit tritt. Aus dieser Werkgruppe, an der Schnider von 1996 bis ungefähr 2000 arbeitet, befinden sich zwei Arbeiten („Ohne Titel“, 1997, und „Ohne Titel“, 1999) in der Sammlung des Aargauer Kunsthauses.
Wie alle Gemälde dieser Schaffensphase entsteht auch das hier vorgestellte, titellose Gemälde von 1999 auf der Grundlage von Zeichnungen. Mehr noch – es ist die detailgetreue Wiedergabe einer bestimmten schnell entworfenen Zeichnung. Jede Pinselbewegung ist massstabsgetreu in das stattliche Grossformat von knapp 240 cm Höhe transferiert. Durch die Hinzufügung von Farbe und insbesondere durch die markanten Weisshöhungen erfahren die zeichnerischen Gesten aber eine starke Schematisierung und Stilisierung. Die Eigenschaften von Schniders Zeichnungen – das Absichtslose, Unmittelbare und Intuitive – werden ausgehebelt; der Prozess, dem Schnider in kleinformatigen Arbeiten auf Papier ungehemmten Lauf lässt, verkommt zur Chiffre.
Jede der schlingernden Röhrenformen auf dem pinkfarbenen Grund findet ihre exakte Entsprechung in der Papierarbeit, die diesem Werk die Vorlage liefert. Ansonsten hat aber die Zeichnung, die in wenigen Pinselhieben mit schwarzer Farbe zu Papier gebracht ist, wenig gemein mit seinem Nachgänger. Hier eine von vielen Hunderten Zeichnungen, die Tag für Tag entstehen – spontan, absichtslos und ohne Konzept; dort das aufwendige, fein säuberlich ausgeführte Ölgemälde, in dem jedwede Anzeichen künstlerischer Handschrift ausgemerzt scheinen. Hier die schwarze, platte Farbe; dort ein Farbspektakel aus rosa, grün und blau. Unübersehbar leuchten die weissen Linien hervor, die sich durchgehend über die Röhren ziehen, wie eine Lichtspur bei langer Belichtung in einer Fotografie. Zu den Rändern laufen sie in das Dunkel aus und erzeugen klare Volumen, worauf die räumliche Ausstrahlung des Bildes zurückzuführen ist. Dass die dreidimensionale Wirkung des Gemäldes ein ausgesprochenes Anliegen Schniders ist, wird deutlich, wenn man die kleine Skulptur hinzuzieht, die auf der Grundlage derselben Zeichnung entstanden ist. Ganz wie Schnider im Ölgemälde die abstrakten Pinselstriche und Lineaturen als konkrete Gegenstände behandelt und sie im Sinne eines „abstrakten Stilllebens“ vergegenständlicht, schafft er ausgehend von Zeichnungen auch Skulpturen. Aus rudimentären Materialien geformt, tragen sie noch das Fragile der Zeichnungen in sich. Sie erproben den Schritt von der Fläche in den Raum und bilden damit eine weitere Vorstufe für die grossen Gemälde und deren anspruchsvollen Illusionismus. Die Zeichnung aber – das kann nicht genug betont werden – bleibt Dreh- und Angelpunkt des gesamten Schaffens. Die Malerei sei, so Schnider selbst, nur Ausführung: „Alles kommt von der Zeichnung und ist im Kopf vorbereitet, bevor ich an die Leinwand gehe.“
Yasmin Afschar