Holz, Metall, 76 x 60.5 x 41 cm
Der in Genf aufgewachsene und heute in London lebende Christian Marclay (*1955) ist seit Ende der 1970er-Jahre als bildender Künstler wie auch als Musiker, Komponist und Performer tätig. Es erstaunt daher kaum, dass er in seinem facettenreichen Werk die Schnittstellen von Kunst, Musik und Populärkultur befragt.
Klänge und Sound erweisen sich als wichtige Konstante in seinen Videoarbeiten, Installationen, Objekten, Bildern, Fotografien und Performances. Auch der Arbeit “Ohne Titel (Stool)“ von 1992, die als Depositum der Schweizerischen Eidgenossenschaft in unsere Sammlung gelangte, liegt die Musik gewissermassen zugrunde. In die Sitzfläche eines Barhockers aus den 1920er-Jahren hat Marclay ein Waldhorn eingelassen, bei dem er ausser Schallbecher und Blasrohr alle Teile entfernt hat. Die nunmehr schlichte, geschwungene Form des Horns findet eine formale Entsprechung in der Konstruktionsart des Hockers, wobei die beiden Gebrauchsgegenstände zu einer feinsinnig humorvollen Neuinterpretation verschmelzen.
“Ohne Titel (Stool)“ lässt sich einer Gruppe von Arbeiten zuordnen, die der Künstler insbesondere in den 1990er-Jahren geschaffen hat: Objekte, die ebenso gehört wie gesehen werden wollen (unabhängig davon, wie still sie sind), und Klänge, die ebenso gesehen wie gehört werden wollen (unabhängig davon, wie immateriell sie sind). Nach dem Prinzip des Samplings, das seine gesamte künstlerische Tätigkeit prägt, verfremdet er Musikinstrumente, indem er sie auseinandernimmt und mit andersartigen Versatzstücken neu zusammensetzt. Der Stille verleiht er dadurch eine Form; Geräusche und Klänge werden auf eigenartige Weise mit den Augen erfahrbar gemacht. Es sind gerade Marclays tonlose Werke, die uns vergegenwärtigen, wie intensiv wir mit den Augen “hören“.
Während Musik heute ein geläufiges Medium innerhalb des zeitgenössischen Kunstschaffens darstellt, so entdeckte sie Marclay bereits in den 1980er-Jahren als bildkünstlerisches Material. Mit seinen damals geschaffenen soundbasierten Werken leistete er Pionierarbeit. Die langjährige künstlerische Auseinandersetzung findet eine Weiterführung in seinen neusten Arbeiten, in denen er das lautmalerische Potenzial der Schrift auslotet. Dieser im bisherigen Schaffen verwurzelten und gleichzeitig neuen Themenstellung in Christian Marclays Werk widmete das Aargauer Kunsthaus im Herbst 2015 eine umfassende Einzelausstellung.
Madeleine Schuppli, 2018