Buntstift und Bleistift auf Papier, 86.5 x 56.5 cm
Adolf Wölfli (1864–1930), ein Berner Künstler und Patient der Psychiatrie Waldau, figuriert heute im Bewusstsein einer internationalen Öffentlichkeit als Prototyp eines Art Brut-Künstlers. Nach schwerer Verding-Kindheit und problematischer Jugend wird er wegen Unzuchtdelikten verurteilt und aufgrund seiner Geisteskrankheit in der Nervenheilanstalt interniert, wo er von 1895 an bis zu seinem Tode 1930 sein Leben verbringt. Hier erschafft er sein aussergewöhnliches wie umfangreiches Lebenswerk, wovon zunächst ein nur verhältnismässig kleiner Teil den Weg in die Öffentlichkeit findet und damit das Bild von Wölflis Kunst prägt. Es handelt sich um die sogenannten “Einblatt-Zeichnungen”, gefertigt als “Broterwerbs-Kunst” – sprich für Papier und Buntstifte –, deren Umfang etwa 760 registrierte Zeichnungen beträgt, zuzüglich geschätzter unbekannter 100. Die hier vorgelegten vier Zeichnungen des Aargauer Kunsthauses fallen in diese Gruppe. Dagegen lag Wölflis Fokus damals auf seinem eigentlichen Vermächtnis: der fiktiven Autobiographie „Von der Wiege bis Zum Graab“ sowie seiner imaginären Reiseberichte, der „Geographischen und allgebräischen Hefte“. 1912, im Entstehungsjahr der vier im Aargauer Zeichnungen, steht Wölfli im Begriff, seine Autobiographie abzuschliessen und mit den Reiseschilderungen zu beginnen.
Jedes der vier Blätter erscheint als eine eigenständige Kosmologie mit ausdrücklichem Randabschluss. Von hier weg beginnt Wölfli zu zeichnen und legt die wichtigsten Grundlinien an, arbeitet sich ohne Unterlass vor und bewirkt damit sein typisches Horror vacui, jene lückenlos mit Ornament oder Figur gefüllten Flächen. Die Aargauer Blätter zeugen von weiteren Gestaltungcharakteristika wie der Verschränkung von Zeichnung, Text und Musiknoten sowie seinem 1912 bereits entwickelten Formenvokabular, dessen wichtigstes Element Wölflis „Vögeli“ ist: erotisches Symbol und Füllform zugleich. Weiter erscheinen Schnecken, „Glöggli-Ringe“ und „Augenmasken“, die oft auch sein Konterfei meinen.
Einer langen Reihe von „Riesenstädten“ dienten ein alter Atlas und Reisezeitschriften als Inspirationsquellen. So erinnert in „Pader=Boorn=Cohr Riesenstadt“ (Nr. 3194) das Dispositiv der Ornamentstreifen tatsächlich an Stadtpläne, mit einem Wegsystem aus Glöggli-Ringen, stattlichen Häusern und Baumreihen. Darin fügen sich eine Vielzahl Kreuz-bekrönter Gestalten mit Augenmasken, flankiert von Vögeli. Mit der Anzahl an Seelen benennt Wölfli die Grösse der Stadt, die jedoch durchaus variiert: an einer Stelle sind es 7‘419‘000, andernorts 4‘983‘000.
Das Stadtbild der „Königs=Ruh Riesenstadt“ (Nr. 3196) prägen dagegen diagonal geflochtene Bänder aus farbigem Mauerwerk, Notenpassagen und Glöggli-Ringen, darin Medaillons mit Figuren: einem Posaunenengel und einer Laute-zupfenden Gestalt, deren Schnauz-bewehrte Augenmaske Wölflis Porträt suggeriert. Kopfüber und mit schwarzen Stiefelchen versehen streichelt die „Königl. Hoheit Prinzessin Mathilda“ ein Vögeli.
Dagegen thront mit Bogen und Laute – wofür wohl wortschöpferisch das „Gangulin“ steht –die „Ritterliche Comtesse Karoline von Ball“ (Nr. 3197) über einem oktogonal gemauerten Paradiesgärtlein mit Zypressen, Vögeli und Augenmasken-Figuren. Sie führt ihren Bogen erfolgreich, da sie dem Instrument üppig viele Noten entlockt.
Zuletzt zeugt das Blatt „Seine Majestät König Edouard VII., Ihro Majestät Königin Viktoria” (Nr. 3195) von Wölflis Liebe für das Pompöse. Prunkvoll baut sich eine zentrale Figurensäule auf bis zur krönenden Gestalt, welche machtvoll in beiden Händen eine Axt schwingt, während “Seine Majestät König Edouard VII.” und “Ihro Majestät Königin Viktoria” mit ihren Zeptern vom Blattrand her auf sie weisen.
Aleksandra Kratki