Öl auf Leinwand, 131 x 81 cm
Der gebürtige Deutsche Hermann Scherer (1893–1927) war massgeblich an der Entwicklung des Expressionismus in der Schweiz beteiligt. 1910/11 hält er sich zum ersten Mal in Basel auf und verbringt auch die Kriegsjahre in der Grenzstadt. Gemeinsam mit den Basler Künstlern Albert Müller (1897–1926) und Paul Camenisch (1893–1970) gründet er in der Silvesternacht 1924/25 die Künstlervereinigung „Rot-Blau“. Die drei Künstler haben dabei weniger ein gemeinsames inhaltliches Programm zum Ziel, sondern erhoffen sich von dem Zusammenschluss bessere und häufigere Ausstellungsmöglichkeiten.
Nach einem Frühwerk, das sich an einem strengen Klassizismus orientiert, findet Scherer, der gelernte Steinmetz, durch Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) einen neuen Zugang zur Bildhauerei. Er lernt den 13 Jahre älteren Künstler 1923 kennen, als dieser seine Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel einrichtet. Scherer besucht Kirchner daraufhin mehrere Male in Davos und übernimmt, nachdem er sich zunächst ausschliesslich für Kirchners Zeichen- und Malkunst interessiert hat, dessen Schaffensweise im skulpturalen Bereich. Er beginnt mit Holz zu arbeiten und modelliert Baumstämme in „taille directe“, schnitzt die Skulpturen also direkt und ohne Vorlage. Zwischen Anfang 1924 und Sommer 1926 fertigt Scherer über zwanzig solcher Holzskulpturen, für die er heute vorwiegend bekannt ist.
Eine dieser Holzskulpturen findet sich im Hintergrund des Gemäldes „Selbstbildnis im Atelier“ (1925). Sie zeigt eine Frau, die ihren toten Sohn oder Mann betrauert. Es handelt sich dabei um die dreiteilige Figurengruppe der „Totenklage“ (1924/25), die zweite knieende Frau wird im Bild jedoch von der Gestalt Scherers verdeckt. Die Skulptur gilt als dessen bedeutendstes Werk der Bildhauerei. Umso interessanter ist es, dass sich Scherer selbst hier jedoch nicht als Bildhauer, sondern eindeutig als Maler darstellt. Zwar nimmt die Figurengruppe einen prominenteren Platz ein als die im Hintergrund hängenden Bilder, in seinen Händen hält Scherer aber mehrere Pinsel und nicht etwa Schnitzwerkzeuge. Sein Selbstverständnis als Maler scheint somit zu diesem Zeitpunkt gefestigt zu sein. Bedenkt man, dass Scherer erst 1922 nach einer Begegnung mit der Kunst von Edvard Munch (1863–1944) in einer Ausstellung in Zürich mit der Malerei begonnen hat, ist dies eine rasante Entwicklung. Die vielen Pinsel in der rechten Hand beziehen sich auf die tatsächliche Schaffensweise des Künstlers. So gibt es eine Fotoserie von seinem Freund Camenisch, die zeigt, dass sich während des intensiven Malens immer mehr Pinsel in der Hand Scherers ansammeln – allerdings in der linken Hand, denn Scherer war Linkshänder.
Die tragische Grundstimmung, die in Scherers gesamten Darstellungen des Menschen, ob in der Malerei oder Bildhauerei, auszumachen ist, findet sich auch in diesem „Selbstbildnis im Atelier“ wieder. Leid, Krankheit und Tod sind allgegenwärtig. Wie für Scherers Selbstdarstellungen üblich, zeigt er sich mit kantigen Gesichtszügen, starrem Blick und ernster Miene. Durch die Abbildung mit der Plastik wird das individuelle Leiden des Künstlers weiter symbolisch aufgeladen: Die Trauer der Frau, die ihren toten Mann oder Sohn in den Armen hält, überträgt sich förmlich auf den Künstler, und die Farbgebung des Verstorbenen findet sich ähnlich im Gesicht Scherers wieder.
Bettina Mühlebach