Acryl auf industrieller, ungeteerter Dachpappe, 160 x 9 cm
Wer auf das bisherige Schaffen von Renée Levi (*1960) zurückblickt, dem fällt wohl – insbesondere bei den jüngeren, mit der Sprühdose „gemalten“ Werken – dessen enger Bezug zur Architektur auf. Dies mag, wie oft betont wurde, eine Folge der 1983 beendeten Erstausbildung der Künstlerin zur Architektin und ihrer sodann bei Herzog & de Meuron erlangten Berufspraxis sein. Es hat seine Gründe aber auch in einer früh formulierten bildkritischen Haltung, die im Kontext von „post-minimal“ und „post-conceptual“ situiert werden kann, oder anders gesagt: im Reagieren Levis auf den zur Zeit ihres Zweitstudiums in bildender Kunst noch immer höchst virulenten Topos vom Ende der Malerei. Konsequent hat Levi seither die Frage verfolgt, wie sich Malerei autonom und lebendig fortbehaupten kann. Dabei hat sie – ausgehend von Farbe, Form und Raum – ein überaus schlüssiges, praxisnahes Gesamtwerk entwickelt, das Subjekt und Objekt in eine erkenntnisreiche Wechselbeziehung bringt.
In immer neuer Gestalt begegnet dem Betrachter die physisch zu nennenden Qualität dieser Art von Malerei in der Gruppe von Werken, die als Schenkung aus Basler Privatbesitz in die Sammlung gelangt ist und die in idealer Ergänzung zu den bisherigen Beständen eine fein abgestimmte Auswahl von Wellkarton-, Pappe- und Papierarbeiten aus dem Zeitraum 1992–2000 umfasst. Herausgegriffen sei aus diesem Korpus die unbetitelte, freistehende Arbeit, die Levi 1995 aus einer langen Bahn handelsüblicher Dachpappe geschaffen hat. In der Herkunft des Materials aus dem Baumarkt und der vorgesehenen Verwendung klingt der Architekturkontext an. Die ihr zugedachte Funktion hat die Dichtungsbahn jedoch abgelegt, als Levi sie in einer quasi tautologischen Handlung einseitig mit schwarzer Acrylfarbe bemalte, implizit ihre ungeteerte Ausführung kommentierend. Dabei hat sich, wohl unbeabsichtigt, parallel zur Verschiebung in den Kunstkontext ein neuer, künstlerisch konnotierter Raumbezug ergeben, denn anders als bei späteren, in Etappen bemalten Bahnen, entspricht hier die Lauflänge der Bahn noch der Länge des Ateliers.
In einem zweiten Eingriff, der auch Querbezüge zu den Arbeiten in Streifenform aufweist, hat Levi die Bahn sodann in der Breite beschnitten, weshalb die über die Ränder hinaus auf die „Rückseite“ geratene Bemalung jetzt nur noch an einer Kante zutage tritt. Schliesslich hat sie die durch die Verpackung gegebene, beim Malakt gewiss hinderliche Aufrollspannung der Pappe genutzt und die Bahn – die Ambivalenz zwischen Fläche und Objekt aufgreifend – als eine von beiden Enden her aufgerollte, aufrecht stehende Zwillingsfigur präsentiert. Damit ist ein Schlüsselwerk entstanden, das zum einen die zuvor lose über Stellwände gelegten Papierbahnen variiert, zum andern – es handelt sich um die erste bemalte Papprolle Levis – als Prototyp jener grösseren „Stehenden“ gelten kann, die Levi erstmals 1997 im Swiss Institute in New York ausgestellt hat und von denen früh zwei Exemplare erworben werden konnten. Mit deren Titel ist schliesslich auch eine Lesart angeregt, die Levi als Essenz dieser „Skulptur auf Augenhöhe“ bereits 1991 vorformuliert hatte, als sie im Katalog ihrer Diplomausstellung u.a. den folgenden Satz aus Elias Canettis Masse und Macht zitierte: „Der Stolz des Stehenden ist, dass er frei ist und sich an nichts lehnt.“
Astrid Näff