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Christoph Rütimann, Waagenskulptur, 1997
7 Waagen, 242 x 32 x 37 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau
Copyright: Christoph Rütimann

Mit Witz und Ernsthaftigkeit zugleich tritt Christoph Rütimann (*1955) seit den frühen 1980er-Jahren als Künstler in Erscheinung. In spektakulären Aktionen und Installationen, aber auch mit Objektkunst, Foto- und Videoarbeiten sowie antiklassisch gehandhabter Malerei unterläuft er vermeintliche Gewissheiten und stellt in Duchamp’scher Manier Denk- und Wahrnehmungsweisen auf den Kopf. Eine zentrale Rolle spielen dabei Dinge, die unkonventionell verwendet werden: eine laufende Motorsäge zum Beispiel, auf die der Künstler sich bettet, oder Kakteen, denen er ganze Klangstücke entlockt. Die eindeutigen Protagonistinnen in Rütimanns Instrumentarium sind allerdings Waagen. Stumm erfüllen sie im Alltag ihre Funktion als Messgeräte und sind als solche historisch eng mit Wirtschaft und Handel, Macht und Kontrolle verknüpft. Ebenso besitzen sie hohen Symbolwert, sei es als Attribut der Justitia oder als Seelenwaage.

Für Christoph Rütimann liegt das Faszinosum der Waage jedoch in ihrem Paradox: Obschon zum Wiegen gebaut und für unterschiedlichste Warengruppen und Einsatzbereiche perfektioniert, sind sie ungeeignet, ihr eigenes Gewicht zu bestimmen. Hier setzt Rütimann an und fügt ab 1987 Waagen auf immer wieder neue Weise zu Paar- oder Mehrfachverbindungen zusammen. Balkenwaagen, Federzugwaagen, Waagen mit Schiebegewichten: Das ganze Spektrum mechanischer Entwicklungen findet Eingang in seine Waagenobjekte und -installationen, wobei letztere in den 1990er-Jahren, als analoge durch digitale Modelle rasant verdrängt werden, rasch zu umfangreichen minimalistischen Formationen anwachsen, die hunderte oder gar mehrere tausend typengleiche Komponenten umfassen. Nie aber ist die Vervielfachung Selbstzweck wie etwa bei Armans (1928–2005) neorealistischen Assemblagen. Vielmehr dient die Tautologie dazu, das konstruktive Manko der Waage künstlerisch zu beheben und ihr in der Begegnung mit ihrem Doppel ihr Gewicht und somit ihr physikalisch mess- und bezifferbares Dasein als Gegenstand zuzugestehen. Dies kann in Form von Türmen, Blöcken, Treppen, Topografien oder hängenden Ensembles geschehen, zu denen 1991 noch die schiefe Ebene hinzukommt, die nicht nur mit der Architektur interagiert, sondern auch Waagen wie von Zauberhand ausschlagen lässt oder ihrerseits von Waagensäulen und -ketten ins Lot gerückt wird. Schliesslich entsteht in den Jahren 2005 und 2006 noch eine Gruppe von Arbeiten, bei denen Rütimann Waagen mit Gips übergiesst, so dass alle Teile erstarren. Das mit den raumfüllenden Installationen und namentlich den Waagenpyramiden bereits zuvor schon thematisierte Begraben-Sein unter dem tonnenschweren eigenen Gewicht wird so zu letzter Konsequenz getrieben und die Idee des Wiegens ad absurdum geführt.

Beim Turm aus der Sammlung des Aargauer Kunsthauses, der aus sieben Handelswaagen der holländischen Marke Keylard besteht, ist dagegen alles noch gut überschaubar. Die Waagen sind gleichmässig in aufrechter Position übereinander gestapelt, jedes Einzelteil ist vollständig sichtbar. Insbesondere der freie Blick auf sämtliche Anzeigen ist wichtig, denn die Anzahl der Waagen ist so kalkuliert, dass die Zeiger, von oben nach unten abgelesen, wie beim Zifferblatt einer Uhr mit jedem weiteren Element im gleichen Intervall vorrücken. Mit den sieben Exemplaren, die alle etwas mehr als 6 Kilogramm wiegen, lässt sich so ein Vollkreis beschreiben und die Maximallast von 50 Kilogramm pro Waage beim untersten Baustein ausreizen. Im Unterschied zur „Endlosen Säule“, mit der sich Constantin Brâncuşi (1856–1957) ab 1917 beschäftigte und mit der er nicht zuletzt auch eine radikal neue Form einer Skulptur ohne Sockel erfand, handelt es sich also um ein geschlossenes System. Mit der Wirkung von Sockeln befasst sich aber offensichtlich auch Rütimann, charakterisiert er den vorliegenden Turm doch als sockellos. Damit bildet dieser gleichsam das Gegenstück zum allerersten Waagenobjekt von 1987 und dessen Varianten. Bei diesen sind jeweils Küchenwaagen so arrangiert, dass zuunterst gleich mehrere an den Anschlag geraten, wodurch die identisch positionierten Schiebegewichte eine Art Sockel markieren. Die Frage nach der richtigen Relation zwischen Skala und Eigengewicht wird so auch zur metaphorischen Frage nach dem Gewicht der Kunst im Verhältnis zum Aufwand rund um ihre Präsentation.

Astrid Näff

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