Aquarell auf Papier, 41 x 29.5 cm
Was ist schon normal, fragt uns Sabian Baumann (*1962) in ihren_seinen Zeichnungen, Objekten und Installationen immer wieder aufs Neue. Alles und nichts, ist die Antwort. „Normalität“ erachtet Baumann als Ausnahmezustand; als historisch, politisch und sozial geformtes gesellschaftliches Konstrukt, das es kritisch zu hinterfragen gilt. In einer Geste, mit der sie_er vorgegebene Bestimmungen und Grenzen des Geschlechts radikal infrage stellt, ändert Baumann ihren_seinen Vornamen von Sabina in Sabian, was weiblich und männlich zugleich klingt. Sie_er beansprucht damit eine bewusst geschlechterunspezifische Form der Subjektzuschreibung. Neben ihrer_seiner Tätigkeit im Bereich der bildenden Kunst ist Baumann an zahlreichen kollaborativ organisierten, queer-feministischen Projekten beteiligt, in denen soziale Rollen und Geschlechternormen diskutiert werden. Im Aargauer Kunsthaus findet 1998 Baumanns erste Einzelausstellung statt; in der Sammlung befinden sich rund zwanzig Zeichnungen aus jener Zeit und vier weitere Papierarbeiten sowie ein Tonobjekt in Form einer Maske, wie sie charakteristisch ist für das Schaffen um 2006/07.
Das Medium der Zeichnung stellt für Baumann von Anbeginn ihrer_seiner künstlerischen Arbeit ein wichtiges Experimentierfeld dar. Sie_er vereint darin vermeintlich Unvereinbares, holt auf durchaus humorvolle Art und Weise das Andere, Hässliche und Fremde in ihre_seine fantastischen Bildwelten und spielt zugleich mit starken kulturellen Symbolen – so auch im Aquarell „Du bist schön“ von 2004. Rechts im Hintergrund ist anhand von Fragmenten eines Vorhangs und eines Bodens ein Raum angedeutet, mittig darin steht ein bizarres Wesen. Aus amorphen Klumpenformen aufgeschichtet, stellt es etwas zwischen Monster, Geist und Raupe dar. Es ist mit Mund, Augen und Haaren ausgestattet, was ihm menschliche Eigenschaften zuspricht – umso mehr, als dass in wenigen meisterhaft zu Papier gebrachten Pinselstrichen der Gemütszustand des Wesens zum Ausdruck kommt: Es wirkt deprimiert, traurig, vielleicht beschämt. Den Worten, die ihm in den nach oben gereckten Haaren entwachsen, scheint er nicht recht glauben zu wollen. „Du bist schön“ ist zu lesen; aus jedem Haar formt sich ein Buchstabe, während die Haare der anderen Scheitelhälfte entlang des Kopfes nach unten fallen. Es scheint, als wollten die einzelnen Buchstaben das in sich zusammengefallene Männchen nach oben, in eine aufrechtere Haltung ziehen – aufrecht und stolz, trotz der sackigen Figur, der schlechten Proportionen und des offensichtlichen Andersseins. Das Element des Monströsen, Entstellten kommt bei Baumann immer wieder vor, meist mit der Anmut einer flüchtigen Erscheinung, die wie eine Traumfigur nur kurz aufschimmert und sich jeden Moment verändern kann. Diese eigentümlichen Figurfindungen lassen sich im Kontext der Gender- und Queertheorien verorten, in denen das Monströse als Motiv der Befreiung gilt. Indem es von der Norm abweicht, wird ihm als Träger neuartiger Botschaften Potenzial zugesprochen. Bei Baumann ist es der Ruf nach Unvoreingenommenheit gegenüber Körper, Identität und Sexualität.
Yasmin Afschar