Öl auf Leinwand, 175.2 x 77.2 x 3.5 cm
Von 1906 bis 1911 schuf Ferdinand Hodler (1853–1918) unter dem Titel „Heilige Stunde“ verschiedene Kompositionen mit weiblichen Figuren, die, umgeben von Blumen, in freier Natur sitzen. Während die Werke von 1906/07 zwei, vier und sechs Frauen wiedergeben, überwiegen bei den ab 1909 entstandenen Gemälden einfigurige Darstellungen. Zu letzteren gehört auch das vorliegende Bild, das neben zwei weiteren Fassungen (ehemals Königliche Gemäldegalerie Dresden, im Krieg zerstört; Kunstmuseum Basel) um 1910 entstand und Jeanne Charles Cerani als Modell zeigt. Titel und Motiv suggerieren einen religiösen Kontext. So bezeichnet „Heilige Stunde“ eine Andachtsübung zu Ehren Christi. Gleichzeitig lässt die in einem blumenreichen Bezirk sitzende Frau in blauem Gewand mit vielfachem Faltenwurf an spätgotische Madonnendarstellungen im Hortus conclusus denken. Hodler ging es aber nicht um die Adaption einer religiösen Darstellung im traditionellen Sinn, sondern um einen adäquaten Ausdruck eines pantheistischen Naturempfindens, um die Einheit von Mensch und Natur, ein Thema, das ihn während seines gesamten Schaffens begleitete, wobei er zusehends die überlieferten ikonografischen Traditionen zu überwinden suchte. Zeigen frühe Arbeiten wie „Aufgehen im All“ oder die erstmalige Beschäftigung mit dem Bildgedanken der „Heiligen Stunde“ – eine 1901 geschaffene und 1904 unter diesem Titel ausgestellte, stehende Frauenfigur in einer Wiesenlandschaft – noch einen tradierten Gebets- bzw. Admiror-Gestus, wird in den späteren Varianten und Fassungen der „Heiligen Stunde“ und weiteren symbolistischen Figurenbildern Hodlers der Körper zum alleinigen Ausdrucksträger. So spiegeln die horchende Kopfstellung, die gezierte Hand- und Fusshaltung sowie die übrige Bewegtheit des Körpers im Werk des Aargauer Kunsthauses das emotionale Bewegtsein der Frau und suggerieren ein ahnungsvolles Naturempfinden. Im Unterschied zu den symmetrisch angelegten mehrfigurigen Varianten, in denen die einzelnen Regungen der Frauen in den Posen der Gefährtinnen ihre Entsprechung finden, belässt Hodler die Einzelfigur im irritierenden Wechselspiel des in sich Ruhens – evoziert durch die den Oberkörper rahmenden Arme und die im Schoss liegenden Hände – und der dynamischen Anlage. Der einer ornamentalen Figur gleich bewegte Körper hebt sich mit der Schönlinigkeit seiner Umrisse gegen den kaum ausdifferenzierten überarbeiteten Hintergrund ab und ist ebenso Teil der Natur wie die angedeuteten Blumenranken.
Aufgrund des skizzenhaften Erscheinungsbilds und Korrekturen an den ursprünglich tiefer angesetzten Händen gilt das vorliegende Gemälde als erste der drei grossen, um 1910 entstandenen einfigurigen Fassungen. Die hier ausgearbeitete dynamische Ausdrucksform entwickelte Hodler 1911 in zwei mehrfigurigen Varianten der „Heiligen Stunde“ und in den Darstellungen des „Fröhlichen Weibes“ weiter. Er steigerte, u. a. durch eine verstärkte Drehung des Oberkörpers, die Expressivität und raumgreifende Wirkung der Gestalt.
Das Wiederaufnehmen von Motiven in mehreren Varianten und Fassungen ist zum einen Ausdruck von Hodlers Suche nach der idealen Komposition, was sich in den jeweils komplexen Werkgenesen spiegelt. Zum andern bediente der Künstler damit den Markt. Hodler war zu Beginn der 1910er-Jahre in der Schweiz und in Deutschland ein gefragter Maler und seine Arbeiten fanden reissenden Absatz. Letzteres illustrieren neben Serien wie „Der Mäher“ oder „Der Holzfäller“ auch die um 1910 geschaffenen einfigurigen Darstellungen der „Heiligen Stunde“, die kurz nach ihrer Fertigstellung verkauft wurden. Sie waren Teil der in jenen Jahren herrschenden „Hodleromanie“, wie Louis Baudit 1912 das grosse Interesse an Hodlers Werken umschrieb.
Im Rahmen des für ein Jahr angelegten und durch das Bundesamt für Kultur unterstütze Provenienzforschungsprojekt
wurden u.a. Sammlungswerke von Ferdinand Hodler untersucht. Grund war, dass sie während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im internationalen (deutschen) Kunsthandel gut vertreten waren. Gemäss den Vorgaben des Bundesamts für Kultur in die Kategorie B eingestuft. Laut Schlussbericht von Nora Togni vom 30.10.2018 bedeutet dies Folgendes: „Die Provenienz zwischen 1933 und 1945 ist nicht eindeutig geklärt oder weist Lücken auf. Die vorhandenen Informationen lassen aber auf eine unbedenkliche Provenienz schliessen.“
Regula Bolleter