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Christian Gonzenbach, Amitlu Anec, 2012
Gips, 152 x 270 x 130 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau / Schenkung Christian Gonzenbach
Copyright: Christian Gonzenbach
Fotocredit: Philipp Hitz

Innen oder aussen? Oben oder unten? Körper oder Kontur? Solche Abgrenzungsfragen stellen sich bei Christian Gonzenbach (*1975) häufig. Es sind zugleich Grundsatzfragen phänomenologischer Art, ausgehend vom Fokus des Genfer Plastikers auf der Neuwahrnehmung von Vertrautem. Als Methode für diesen visuellen Neuzugang hat Gonzenbach unter anderem die Moulage gewählt und daraus die Umstülpung entwickelt. Er selbst spricht bevorzugt von Umformung respektive Transformation.

Bei „Amitlu Anec“ (2012) wandte sich Gonzenbach auf diese Weise einem Schlüsselwerk der abendländischen Kunstgeschichte zu. Umgeformt hat er hier, wie der rückwärts zu lesende Titel verrät, Leonardo da Vincis „Abendmahl“ (1494–1498), jenes epochale Wandbild im Refektorium des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand, dessen strenge Zentralperspektive einst neue Massstäbe in Bezug auf die Raumerfahrung setzte. Als Ausgangspunkt diente Gonzenbach indes nicht das von Leonardo direkt auf den trockenen Putz aufgebrachte flächige Original. Vielmehr griff er auf eine jener zahllosen Nachahmungen in unterschiedlichsten Materialien zurück, die schon immer für religiöse Zwecke produziert wurden und heute auch aus profaneren Gründen zirkulieren. Diese kommerzielle dreidimensionale Replik aus Gips, die gegenüber dem Wandbild schon etliche Freiheiten aufwies und aller expressiven Feinheit entbehrte, modifizierte er in einem mehrstufigen Prozess. Nach einem Testlauf in Form einer Silikonabnahme des Kleinformats stellte er hierfür von der unprätentiösen Vorlage zunächst eine lebensgrosse Tonfassung her. Diese eigenhändig modellierte Plastik, die noch etwas stärker vom Original abwich, klatschte er anschliessend ebenfalls mit Silikon ab. Umgestülpt ergab dies aber noch kein überzeugendes Resultat. Daher steifte er die weiche Hülle provisorisch aus und formte diesen Zustand erneut mit Baugips ab. So fand er zu einer spektakulären Lösung, die ihm, als er die Silikonschicht wieder abzog, wie ein Lichtmoment, vergleichbar der Entdeckung der Malereien in den Höhlen von Lascaux erschien (1).

Eine ähnliche Erfahrung lässt sich auch vor der letztlich seitwärts präsentierten Arbeit machen. Scheinbar willkürlich verteilt, schälen sich in der Frontalansicht aus der glatten, anfangs formlos anmutenden Masse menschliche Gliedmasse und Gegenstände heraus. In der Mitte werden Hände und Arme, am oberen Rand Füsse erkennbar, dazwischen Teller, Becher und Brote. Wo hingegen die Köpfe und Oberkörper zu sein hätten, klaffen Löcher. Erst aus der Nähe und geradezu schockartig erkennt man in diesen auf Links gezogenen Partien Gesichter. Sie sind positiv, aber verzerrt und kopfstehend wiedergegeben. Leonardos lebensnah gestaltete und emotional fein differenzierte Tischgemeinschaft zerfällt so in regellose Diskontinuität. Damit scheint just jener „monströse“ Zustand erreicht, den Leonardo selber in seinen Erklärungen zur Perspektive für alle Blickwinkel jenseits des idealen Betrachterstandorts vermerkt (2).

Gonzenbach sagt sich vom Idealstandort aber auch insofern los, als seine Skulptur von allen Seiten wahrgenommen sein will. Anders als die Vorlage und das Tonmodell gibt die Rückseite von „Amitlu Anec“ dabei eine raue und fast abstrakte Ansicht preis. Zwar sind die Oberkörper der Figuren auch hier zu erahnen und namentlich Christus ist dank seiner Alleinstellung gut zu erkennen. Die aus statischen Gründen dick mit Gips überformte Gruppe – eine robustere Kunstharzschale mit elfenbeinfarbener Puderbeschichtung stand eine Zeitlang auch zur Diskussion – wirkt aber eher wie eine versinterte Naturformation. An Fels oder an eine Muschel erinnernd, öffnet sie so das von Gonzenbach immer wieder behandelte Spannungsfeld Natur versus Kultur.

Entstanden ist „Amitlu Anec“ in Weiterführung einer 20-teiligen Folge umgestülpter Büsten, die Gonzenbach unter dem Titel „Hcabneznog“ zwischen 2010 und 2012 nach klassischen Meisterwerken schuf. Erstmals öffentlich gezeigt wurde das hochkomplexe Werk, mit dem der Künstler seine bisherigen Einzeluntersuchungen auf eine Gruppenkonstellation übertrug, in der Aarauer Ausstellung „La jeunesse est un art“. Eigens hierfür erarbeitete Gonzenbach die Gipsmuschel während des Ausstellungsaufbaus in leicht veränderter Aussteifung vor Ort nochmals neu. Die finale Fassung überliess er sodann als Schenkung dem Kunsthaus.

Astrid Näff, 2022

(1) „En me glissant sous la vaste coque, j’ai eu soudain l’impression d’être à Lascaux, dans la peau du premier explorateur à découvrir un art totalement inattendu et fascinant.“ („Als ich unter die geräumige Schale kroch, hatte ich plötzlich den Eindruck, in der Haut des ersten Erkunders von Lascaux zu stecken und eine total unerwartete, faszinierende Kunst zu entdecken.“) Gauthier Huber, „Christian Gonzenbach – le tout et son contraire“, Kunstbulletin, 2014, Nr. 1-2.

(2) Vgl. insbesondere das Kapitel „Della prespectiva naturale mista colla prespectiva accidentale“ des Codice Arundel, fol 62, recto.

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