LED-Monitor, Einplatinencomputer, Open Source-Software zur Berechnung der Flugroute von Solarballonen, 30.6 x 50 cm
Aus grosser Höhe fällt der Blick auf die Erde. Bis zu 17.6 Kilometer liegen zwischen der Kamera und der aufgenommenen Szenerie. Zunächst füllt der schneebedeckte Südkamm der Alpen das Bild, später die Po-Ebene. Auch wenn sich manchmal Wolken dazwischen schieben: Der Anblick ist sublim. 470 Minuten lang lässt er sich geniessen. So lange hat der Flug des Solarballons gedauert, den Christina Hemauer (*1973) und Roman Keller (*1969) an Ostern 2016 vom Gemmipass am Übergang vom Kanton Bern ins Wallis haben aufsteigen lassen und den die herrschende Höhenströmung dann über das Monte Rosa Massiv und Mailand bis nach Reggio Emilia getragen hat. Erst der Sonnenuntergang – sprich: der unvermeidliche Wegfall des Auftriebs – bereitet dem Schauspiel ein Ende.
Trotz des atemberaubenden Panoramas verfolgen Hemauer/Keller mit ihrer Arbeit aber keinen ästhetischen Selbstzweck. Das Video ist vielmehr Teil eines grösseren Unterfangens, bei dem das Künstlerpaar mithilfe von jeweils selbst gebauten Ballonen und anderen Interventionen Daten über die Blautöne des Himmels sammelt und so den menschlichen Einfluss auf diese untersucht. Bekannt für ihre Ausrufung des Postpetrolismus 2006 und diverse beharrliche Recherchen zu frühen, von der Erdöl-Lobby ausgebremsten Solarinitiativen, unternehmen Hemauer/Keller ihre erste Expedition zum Thema Himmelsblau 2014. Diese führt sie für ein künstlerisch-wissenschaftliches Reenactment nach Chamonix sowie auf den Col de Géant, einen hochgelegenen Pass am Mont Blanc. Ausgerüstet sind sie dabei mit einem Cyanometer: dem Nachbau einer 1789 vom Schweizer Naturforscher Horace Bénédict de Saussure entwickelten Skala zur Bestimmung der Blaustufen des Himmels. Als sie später erfahren, dass die moderne Klimatologie in der Himmelsfarbe keine relevante Grösse sieht und sie deshalb nicht erfasst, beschliessen sie, diesen Part zu übernehmen und ihn auf Dauer in ihre Werkpraxis zu integrieren. Ihren Art & Technology-Ansatz weiter ausweitend – Christina Hemauer studierte Kunst in Zürich und Gent, Roman Keller Umweltnaturwissenschaften und Fotografie in Zürich, Karlsruhe und New York – dringen sie kurz darauf erstmals in jene Zone vor, in der das Blau des Himmels entsteht: die untere Stratosphäre.
Bei den Solarballonflügen von Hemauer/Keller zählt folglich nicht so sehr der Blick nach unten, obschon auch dieser wichtige Denkanreize enthält – etwa zur Gletscherschmelze und anderen Folgen des Klimawandels oder zum Phänomen des global dimming respektive global brightening je nach weltweitem Emissionsverhalten. Wie die Ausrichtung der Kamera deutlich macht, ist vielmehr der Blick geradeaus und nach oben zentral. Auf der Flughöhe des Ballons tritt der Übergang vom Blau des Himmels zum Schwarz des Weltalls geradezu lehrbuchmässig in Erscheinung, da dort der lufthaltige Teil der Erdatmosphäre schon zu 90 Prozent überwunden ist. Damit rückt zugleich die Fragilität der dünnen inneren Erdhülle ins Bild, was ähnlich nachdenklich stimmt wie 1968 das berühmte, über dem kargen Mondhorizont aufgenommene NASA-Foto „Earthrise“.
Erworben werden konnte das Video aus der 2021 gezeigten Ausstellung „Art as Connection“, wo es das Kernelement eines vierteiligen Ensembles war, das auch den ebenfalls angekauften „Balloon Flight Predictor“ (2021) umfasste. Seither haben Hemauer/Keller ihre Erforschung der Farbwerte des Himmels bereits wieder weiterentwickelt. Ihr Wunsch, auf Museumsdächern Stationen für kontinuierliche Langzeitmessreihen einzurichten, hat sich da und dort schon erfüllt, und auch für weitere Flüge mit Solarballons haben sich neue Perspektiven eröffnet: Im Rahmen eines Förderprogramms am CERN in Genf hat sich das forschende Duo mit möglichen Einflüssen der kosmischen Strahlung auf die Wolkenbildung zu befassen begonnen.
Astrid Näff, 2023