Gouache auf Karton, 101 x 76.5 cm
English version (the original text) below
Die Geschichte von „Blaubart, Bluebeard“ bzw. „Barbe Bleu“ ist ein europäisches Märchen, das vermutlich in der Bretagne nach dem Vorbild des französischen Heerführers, Mitstreiters von Johanna von Orléans und Serienmörders Gilles De Rais (1404–1440) entstand. 1697 veröffentlichte der französische Schriftsteller Charles Perrault eine modernisierte Fassung in seiner einflussreichen Märchensammlung „Histoires ou contes du temps passé“ (1697), die wiederum zahlreiche Schauer- und Horror-Romane, die Oper „Herzog Blaubarts Burg“ von Bela Bartòk sowie Kinofilme im 20. Jahrhundert inspirierte, die in der stark verkitschten Version mit Richard Burton aus dem Jahr 1972 gipfelten. Es gibt unzählige moderne Interpretationen der Schlüsselelemente in Blaubarts Geschichte aus feministischer und psychoanalytischer Perspektive: Ein reicher älterer Mann heiratet nacheinander eine Reihe von Frauen, die er heimlich ermordet. Seine letzte Braut, eine junge Frau, stellt er auf die Probe. Er teilt ihr mit, dass er verreisen muss, und übergibt ihr einen Schlüsselbund, mit dem sie die Türen sämtlicher Räume in seinem Schloss aufschliessen kann. Nur die Tür zu einem Raum darf sie nicht öffnen. Die junge Frau kann der Versuchung allerdings nicht widerstehen, schliesst die verbotene Tür auf und findet dahinter die blutüberströmten Überreste ihrer Vorgängerinnen. Erschüttert von diesem Anblick lässt sie den Schlüssel in eine Blutlache fallen. Da der Schlüssel verzaubert ist, kann sie das Blut nicht abwischen. Der blutige Schlüssel verrät Blaubart bei seiner Rückkehr, dass seine Frau ihm nicht gehorcht hat, und versucht – rasend vor Zorn – auch diese umzubringen. Die junge Frau wird jedoch von ihrer Schwester gerettet, die sie zuvor gemeinsam mit ihren Brüdern zu sich gerufen hat. Gemeinsam töten sie Blaubart. Die junge Frau erbt dessen Vermögen und Schloss. Sie bestattet die toten Frauen und verheiratet ihre Geschwister erneut. Das Märchen erzählt die Geschichte eines Ehemanns und Serienmörders, der schließlich einer neugierigen und ungehorsamen jungen Frau unterliegt. Es ist voll von sexuellen Symbolen, etwa dem Blut, dem Schlüssel oder dem Raum voller lebloser Frauenkörper. Dass sich das Morden wiederholt, wird durch das Eingreifen einer Schwester und letztlich den Triumph einer Frau verhindert. Doch was möchte uns das Märchen eigentlich vermitteln? Dass wir uns vor älteren Männern und verschlossenen Türen hüten oder dafür sorgen sollten, dass wir stets eine unserer Schwestern in unserer Nähe haben?
1992 widmete das Aargauer Kunsthaus Suzanne Baumann eine Ausstellung. Das damals eben entstandene Werk „Blaubart“ wurde hierfür als Plakat verwendet. Um auf dem Bild Spuren der Horrorgeschichte zu entdecken, muss man allerdings genau hinsehen. Als Erstes sticht die Anhäufung von zwei markanten Symbolen hervor: verschiedenste Männer- und Frauenhüte sowie geschmeidige, nackte, weiße Frauenkörper in einer Vielzahl von Posen, wie sie zur Zeit der Pin-ups in Softporno-Magazinen typisch waren. Man denke etwa an die berühmten Golden Dreams-Aufnahmen, für die die junge Marylin Monroe auf Kalendern posierte und die oft in Autowerkstätten hingen. Daneben lassen sich Wörter auf dem Bild erkennen: „Carl Müller Zürich AG“, deren Markenzeichen aus einem Adler und den Worten „en avant“ („vorwärts“) besteht. Die Müller AG produzierte sportliche und elegante Hüte aus Pelz oder Samt, unter anderem auch Damenhüte in der berühmten Glockenform. Indem sie Hüte auf subtile Art mit Frauenkörpern – beides Konsumgüter – miteinander assoziiert, stürzt Baumann uns in eine Art dadaistische Phantasmagorie der modernen Werbung.
Bei einer abstrakteren Betrachtungsweise sticht das Farbspiel aus einer Abfolge von kleinen roten Dreiecken und zwei blauen Dreiecken ins Auge. Diese bilden den stärksten Farbakzent im unteren Teil. Darin liegt der Schlüssel für eine andere Interpretation des Bildes. Im oberen Teil lässt sich eine Art Kuppel mit leuchtend blauen Koteletten erkennen. Hinter den kleinen Figuren und den wippenden Hüten liegen zwei stechende, rote Augen. Die dekorativen Linien aus den Worten „genres, sport und capelines“ verwandeln sich in einen sorgfältig gezwirbelten Schnurrbart über einem schmallippigen, roten Mund. Die blauen Dreiecke ganz unten bilden zusammen mit der Kuppel, den Augen, dem Mund und dem Schnurrbart ein Männerantlitz, das die Betrachtenden fixiert. Die zwei sitzenden nackten Frauen werden zu dessen Nasenflügeln und die tanzenden Frauengestalten zu dessen Ohren.
Was ist geschehen? Bei meiner Betrachtung habe ich mich vom Offensichtlichen zum Verborgenen bewegt oder, besser gesagt, habe ich entdeckt, was gleichzeitig offensichtlich und verborgen ist. Die blauen Dreiecke des gespaltenen Spitzbarts verknüpfen das Bild mit seinem Titel „Blaubart“ und mit einer komplexen Geschichte voller Geschlechterprobleme und angedeuteter sexueller Gewalt.
Das Werk ist keine Illustration. „Blaubart“ ist gleichzeitig da und nicht da. Durch die Verbindung der Punkte „sieht“ man ein Gesicht, das nicht existiert. Suzanne Baumanns Verarbeitung eines Werbeplakats schlägt eine Brücke zwischen einem Horror-Märchen und dem modernen Konsum. Möchte sie andeuten, dass Blaubart ein Phantom ist, das uns alle verfolgt? Sind Blaubarts Serienmorde ein Paradebeispiel für das moderne Verlangen nach immer mehr und immer Neuem – nicht bloß nach einem Hut oder einer/m Geliebten? Ist Konsum „tödlich“ oder macht er alles, gleich, ob sorgfältig verarbeitete Hüte (die von irgendjemandem hergestellt werden mussten) oder Frauen (die sich in einer erotischen Pose darbieten), austausch-, konsumier- und wegwerfbar? Wo endet der Kreislauf der Gier nach Objekten und Körpern?
Der Titel, die spitzen blauen Dreiecke des Blaubart-Phantoms mit seinen glühenden, diabolisch starrenden Augen legen die monströse männliche Gewalt gegenüber der weiblichen Neugierde frei. Aber starrt Suzanne Baumann – oder jeder Betrachter und jede Betrachterin dieses Bildes – Blaubart nieder? Warnt uns dieses Werk vor der Verflechtung von Patriarchat und Konsumkultur sowie davor, wie Frauen als Ware (die Körper und die roten Dreiecke) die tragische Verbindung zwischen beiden darstellen? Ganz gleich, wie die Antwort lautet: Vergessen wir nicht, wer Blaubart letztendlich durch eine List besiegte.
Griselda Pollock, 2022
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„Bluebeard“, „Blaubart, Barbe Bleu“ is a European folktale, possibly of Breton origin, or based on the historical soldier and woman-murderer Gilles De Rais (1404-40) who fought beside Jeanne d’Arc. A modernized version, published by Charles Perrault in his influential „Histoires ou contes du temps passé“ (1697) inspired Gothic horror novels and Bartòk’s opera as well as 20th century movies, culminating in 1972 with a hyper-kitsch version starring Richard Burton. Modern interpreters of fairy tales have written volumes of feminist and psychoanalytical interpretation of the story’s key components: a rich, older man has married but secretly murdered many wives. His latest young bride is subjected to a test. He tells her he must go on a journey and gives her key with which she can open all but one of the rooms in his castle. She must not open this chamber. Unable to resist the curious young bride unlocks the forbidden door only to discover the horrifically bloody remains of his previous wives. In panic, she drops the key in the pools of their blood. Magically, the key resists her cleaning, retaining the incriminating evidence of her transgression when Bluebeard returns. Enraged, he prepares to kill again but his wife is rescued by her sister—whom she has summoned with her brothers. They kill Bluebeard. She inherits his wealth and castle, buries the dead women, arranges marriages for her siblings and herself remarries. This is a tale of a serially homicidal husband defeated by a curious and defiant young woman, resonant with sexual symbols such as blood and a key, and a chamber of female corpses. Repetition is, however, broken by the intervention of a sister and a woman’s final triumph. So what is the message of the tale. Be wary of older men and locked doors, or always have a sister nearby?
„Blaubart“ was exhibited in 1992 and used as the poster for Baumann’s solo show in Aarau that year. We have, however, to look hard for the traces of this Gothic tale. Firstly, we notice the proliferation of two key visual signs: men’s and women’s hats (all sorts) and lithe, naked white female bodies in a variety of poses typical of soft porn magazines of the pin-up age, like the famous Golden Dreams for which a young Marilyn Monroe had posed for the kinds of calendar that used to hang in motor mechanics’ workshops. Three are words in the image: „Carl Mueller of Zurich A“G, whose brand insignia is an eagle with the legend „en avant“. Mueller was a manufacturer of hats, fur or velvet, formal or sporting, including the famous cloche style for women. Bauman topples us into a Dada-like phantasmagoria of modern advertisement, subtly aligning hats with women’s bodies—both commodities.
In a more abstract approach, I notice colour is played out across the image in a succession of small red triangles and in two blue triangles that form the strongest visual note at base of the image. This is cue to revisit the whole image. I now discern a dome-like shape at the top with brilliant blue sideburns. Behind the central screen of tiny figures and bobbing hats, I then see two piercing, red eyes. I see the decorative line created by word „genres, sport, capelines“ turn into a beautifully manicured moustache over a thin, reddened mouth. Finally dome, eyes, mouth and moustache claim the blue triangles to form a man’s face, staring at me. I then recognize the matching pair of seated naked women become the curve of his nostrils, the dancing figures his ears.
What has happened? I have had to work from the obvious to the hidden, or rather to discover what is hidden in plain sight. The blue triangles form a split goatee beard that anchors the image to its title—Bluebeard— and thus to a complex tale full of ‘gender trouble’ and implied sexual violence.
The work is not illustration. ‘Bluebeard’ is, and is not, present. Linking the dots as it were leads me to ‘see’ the face that is not really there. Suzanne Bauman’s intervention into a found advertisement bridges a horrifying fairy tale with modern consumption. Is she suggesting that Bluebeard is the phantom that haunts us all? Is Bluebeard’s seriality is the prototype of modern habits of wanting more and different—not just one hat or one lover. Does consumption ‘kill’, or does it make each item, be that a nicely-made hat (someone had to make it) or a woman (offering herself in erotic poses), replicable, to be used and thrown away? Where does the cycle of desire for things or bodies end?
The title, the pointed blue triangles of the Bluebeard phantom with his fiery, devilish stare expose the monstrous violence of masculinity pitted against the curiosity of women. Is, however, Suzanne Bauman—or any viewer in front of this image—staring down Bluebeard? Is the work warning us about the entwining of patriarchal and consumer culture and how woman as commodity (the bodies and the red triangles) is the tragic link between the two? But remember who outwits Bluebeard at the end of the fairy tale.
Griselda Pollock, 2022