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Hermann Scherer, Der Kranke (Hermann Scherer vor dem Krankenbett), 1926
Oil on canvas, 120.5 x 110 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau / Depositum Sammlung Werner Coninx
Copyright: lizenzfrei

Der gebürtige Deutsche Hermann Scherer (1893–1927) ist heute vornehmlich für sein bildhauerisches Schaffen bekannt. Dass er ebenfalls mit seiner Malerei massgeblich an der Entwicklung des Expressionismus in der Schweiz beteiligt war, blieb bis zu ersten Aufarbeitungen in den 1970er-Jahren eher unbeachtet. Zu Lebzeiten trat Scherer bereits 1923 erstmals mit seinen Bildern an die Öffentlichkeit, gerade mal ein Jahr nachdem er überhaupt mit der Malerei begonnen hatte. Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass Scherer durch die Bekanntschaft mit Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) zur Malerei gefunden hätte, waren es wohl eher die Bilder des norwegischen Künstlers Edvard Munch (1863–1944), die einen starken Eindruck auf den jungen Scherer gemacht haben. Nach einem Besuch von dessen Retrospektive im Kunsthaus Zürich 1922 weiss Scherer, dass er fortan nicht nur als Bildhauer, sondern auch als Maler tätig sein will.

So ist es denn auch besonders Kirchners zeichnerisches und malerisches Schaffen, das Scherer bei seinem ersten Besuch bei dem 13 Jahre älteren Künstler in Davos interessiert. Dieser hingegen sieht in Scherer vor allem den Bildhauer. Scherer profitiert schliesslich in allen Bereichen von Kirchners Können und Erfahrung: Neben zahlreichen Zeichnungen und Gemälden entstehen während Scherers drei Aufenthalten bei Kirchner zwischen Anfang 1924 und Sommer 1926 über zwanzig Holzskulpturen in der Technik der „taille directe“ – eine Arbeitsweise, bei der die Skulptur direkt aus dem Baumstamm geschnitzt wird und die Scherer von Kirchner übernimmt. Das Verhältnis zwischen den beiden starken Persönlichkeiten entwickelt sich problematisch, da Kirchner den jüngeren, von ihm als Schüler angesehenen Scherer immer wieder der Nachahmung bezichtigt.

Die Malerei Scherers widmet sich hauptsächlich Landschafts- und Personendarstellungen. Gemälde in der freien Natur entstehen sowohl in Davos als auch im Mendrisiotto, wo Scherer gerne mit seinen Künstlerfreunden Albert Müller (1897–1926) und Paul Camenisch (1893–1970) weilt. Zusammen gründen sie dort in der Silvesternacht 1924/25 die Künstlervereinigung „Rot-Blau“. Während Scherers Landschaften in ihren leuchtenden, kraftvollen Tönen und kühnen Farbkontrasten von einer positiven Grundstimmung zeugen, ist für die mindestens 14 heute erhaltenen Selbstbildnisse das Gegenteil der Fall. Stets stellt sich Scherer als Leidenden dar, melancholisch, deprimiert, ausgezehrt und hoffnungslos. Im Bildnis „Der Kranke (Hermann Scherer vor dem Krankenbett)“ (1926) wird das Unglück bereits im Titel erwähnt. Scherer zeigt sich in seinem Selbstporträt denn auch gesundheitlich angeschlagen. Symbolisch intensiviert wird sein schlechter Zustand durch die Kreuzigungsdarstellung auf dem Bild links hinter ihm. Es handelt sich dabei um einen direkten Verweis auf Grünewalds Kreuzigungsdarstellung im Isenheimer Altar, den Scherer mehrmals in Colmar aufgesucht hat. Eine Reproduktion des Werks hing sogar in seinem Atelier. Die Datierung von Scherers Selbstporträt lässt vermuten, dass der Künstler darin seine im Herbst 1926 beginnende Krankheit verarbeitet; jedoch gibt es Aufnahmen, die zeigen, dass das Bild bereits im April 1925 in einer Ausstellung zu sehen war. Mit dem heutigen Wissen um Scherers frühen Tod – er stirbt am 13. Mai 1927 im Alter von 34 Jahren infolge einer Streptokokken-Infektion – wirkt das Selbstbildnis wie eine prophetische Vorwegnahme seines Schicksals.

Bettina Mühlebach

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