Tusche, Gouache und Collage auf Karton, 21 x 24 cm
Kaum ein Wissensgebiet, für das André Thomkins (1930–1985) sich nicht begeisterte: Kunst- und Kulturgeschichte, Mythologie, Alchimie, Magie, aber auch Naturwissenschaften … Der Themenkosmos des Luzerners, der seinen Lebensmittelpunkt wie viele seiner Künstlerfreunde aus dem Umfeld von Nouveau Réalisme und Fluxus von 1952 bis 1979 in Nordrhein-Westfalen hatte, ist unermesslich. Gleiches gilt für die Vielfalt der künstlerischen Praktiken, die nebst den beiden bekanntesten Werkgruppen – den Wortarbeiten und den Lackskins – unter anderem Malerei in diversen Techniken, Druckgrafik und Objektkunst sowie ein überaus reichhaltiges zeichnerisches Œuvre umfasst. Letzteres darf vielleicht sogar als der Kern von Thomkins‘ labyrinthischem Denken gelten, denn trotz seiner Vorliebe für das kleine Format entwickelt der Schüler des Luzerner Surrealisten Max von Moos (1903–1979) darin seine ebenfalls surrealistisch durchdrungene Bildwelt mit besonderer Originalität und Potenz.
Zu diesen Blättern voller synaptischer Funkenschläge und produktiver Motivkollisionen zählt auch das 1976 entstandene und schon im Jahr darauf aus einer Einzelausstellung des Künstlers bei Pablo Stähli in Zürich erworbene Werk „Frau wirft den Stein“. Auf bräunlichem Grund – dem Naturton des Malkartons – hat Thomkins mit schwarzer Tusche ein Gewirr von geschwungenen Linien angelegt und dieses mit brauner Gouache und einigen Weisshöhungen in ein plastisches, räumlich komplexes Gebilde transformiert. In die behende mit Feder und Pinsel geschaffene Struktur, wie sie für Thomkins‘ Arbeitsweise seit Mitte der 1960er-Jahre typisch ist, sind überdies zwei Papierelemente integriert: ein hellgraues, das Bildganze flächig unterbrechendes Oval sowie eine beige, Y-artige Form, in die der Künstler mit wenigen Zusatzstrichen eine nackte weibliche Figur eingepasst hat. Mit der Titelakteurin gleichgesetzt, wird diese Figur sogleich zum Teil eines grösseren Sinnzusammenhangs, in dem das Oval zum Stein und das Y zur Schleuder mutiert. In bester surrealistischer Manier werden also Mehrdeutigkeiten generiert, wird der Sehakt an ein Umkippen in alternative Realitäten gebunden. Ist der Blick für solche Sinn- und Proportionsbrüche geschärft, tritt am rechten Bildrand noch eine zweite, wohl männliche Figur in Aktion und mit ihr die Frage, wer hier wen und weshalb mit dem Stein bewirft. Ist das heftige Rencontre, bei dem ein Gegenschlag abgewehrt scheint, ein Kommentar auf reale Verhältnisse? Zielt es auf das Erstarken der Frau in etlichen Bereichen der Gesellschaft oder gar auf Thomkins‘ private, in Umbruch geratene Situation? Oder ist es ein Werk mit Kunstbezügen, ein Altmeisterzitat, wie dies Thomkins schon 1970/71 in seiner Paraphrasen-Serie nach Werken im Kunstmuseum Basel praktiziert hat und das hier dem Gemälde „Das wilde Heer (Die Kriegsfurien)“, einem der raren Ölbilder des Renaissancemalers Urs Graf (um 1485–1528), entliehen sein könnte? Oder führen beide Annahmen ins Leere und ist alles am Ende doch nur ein Zufallsresultat, gezündet aus den Schlaufen eines zeichnerischen Automatismus und dessen ad hoc und absichtslos erfolgter Interpretation?
Astrid Näff