Pappelholz bemalt, 112 x 40.5 x 45 cm
Hermann Scherer (1893–1927) gilt als einer der wichtigsten Vertreter des Schweizer Expressionismus. In bäuerlichem Umfeld im Schwarzwald aufgewachsen, macht er eine Lehre als Steinmetz und begibt sich anschliessend auf Wanderschaft nach Köln und Koblenz, bevor er in Basel erst für den Bildhauer Otto Roos (1887–1945) und dann als Assistent des Künstlers Carl Burckhardt (1878–1923) arbeitet. Unter dem Einfluss der Edvard-Munch-Ausstellung, die er 1922 im Kunsthaus Zürich besucht, unternimmt er erste Versuche in der Malerei. Entscheidend für Scherers künstlerische Weiterentwicklung ist die kurze, aber anregende Freundschaft mit Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938). 1923 wird Scherer durch Kirchners Ausstellung in der Kunsthalle Basel auf dessen Schaffen aufmerksam. Zwischen 1924 und 1925 verbringt er viel Zeit bei Kirchner in Frauenkirch bei Davos, wo auch die Skulptur „Mutter“ entsteht. Die Begeisterung für Kirchners Kunst teilt er mit dem ebenfalls in Basel ansässigen Albert Müller (1897–1926). Zusammen mit Paul Camenisch (1893–1970) gründen die beiden in der Silvesternacht 1924/25 die Künstlergruppe „Rot-Blau“, die sich auf Kirchners Expressionismus beruft.
Bei Kirchner in Davos erarbeitet sich Scherer, der gelernte Steinmetz, nicht nur die Grundlagen der Malerei, sondern entwickelt auch einen neuen Zugang zur Bildhauerei. Anfang 1924 entstehen die ersten Skulpturen, die er direkt aus Baumstämmen haut – eine Technik, die er von Kirchner erlernt und in der er das adäquate Ausdrucksmittel seiner (bildhauerischen) Anliegen findet. Zu den rund zwanzig Holzskulpturen und über hundert Holzschnitten, die er in einem regelrechten Schaffensrausch bis im Sommer 1926 anfertigt, zählt auch die 1982 für die Kunsthaussammlung angekaufte Mutter-Kind-Darstellung. Die Mutter, der das Entsetzen ins Gesicht geschrieben ist, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Vielleicht hält sie sich auch die Ohren zu. Ihr Blick ist starr und ängstlich. An ihr Bein klammert sich Hilfe suchend das Kind. Die Formen sind einfach, beinahe primitiv; gewisse Körperteile wie Haare, Augen, Lippen oder Scham sind in Schwarz respektive Rot gefasst. Die Oberflächen sind wenig geglättet und die Spuren des Holzmeissels gut sichtbar. Scherer sucht im roh bearbeiteten Holz den unmittelbaren Ausdruck innerer Angst und Bedrängnis. Dabei symbolisiert der nackte Körper Verletzlichkeit und ein Gefühl des Ausgesetzt- und Ausgeliefert-Seins, das fast allen Holzarbeiten gemein ist. Wiederkehrend ist auch die weibliche Figur. Ob als Mutter (in Beziehung zum Kind) oder Geliebte (in Beziehung zum Mann) steht sie im Zentrum von Scherers plastischem Schaffen. Über Scherers Frauen schreibt Kirchner 1928 im Katalog zur Gedächtnisausstellung des früh verstorbenen Künstlers: „Oft belebt ein feiner, rührender Ausdruck so ein auf den ersten Blick grob und ungeschlacht aussehendes Gesicht, die schlichten einfachen Mittel der Formung greifen so unmittelbar ans Herz wie bei den frühmittelalterlichen Plastiken der Dome. Das Weib, das Scherer schuf, ist weder Venus noch Madonna, es ist die Frau, die, halbgebückt mit mütterlichen Augen um sich blickend, ein Kind über eine ärmliche Strasse führt. Es ist ein bestimmter Typ unserer Zeit.“
Yasmin Afschar