Bleistift und Farbstift auf blauem Millimeterpapier / Pencil and crayon on blue scale paper, 99 x 97 x 4.5 cm
Das Aargauer Kunsthaus zeigt in seiner Ausstellungs- und Sammlungspolitik eine Sensibilität für Kunstschaffende, die sich am Rande der grossen Entwicklungslinien der Kunstgeschichte bewegen und sich keiner bestimmten künstlerischen Strömung zuordnen lassen. Eine dieser Einzelgängerinnen ist die in Brittnau geborene Heilpraktikerin Emma Kunz (1892–1963). Ihr Schaffen wurde Anfang der 1970er-Jahre für die Kunst entdeckt und 1973 vom damaligen Direktor Heiny Widmer (1927–1984) zum ersten Mal mit einer Einzelausstellung in Aarau gewürdigt. Seither sind ihre Werke mehrfach international präsentiert und von wichtigen Kuratoren wie Harald Szeemann (1933–2005) als zentrale zeichnerische Position vorgestellt worden.
Die Tochter armer Handwerker absolviert die Primarschule und arbeitet ab 1912 in einer Stickerei. In den Sommermonaten zwischen 1923 und 1939 kommt sie als Haushälterin der Familie des Kunstmalers Jakob Friedrich Welti (1871–1952) mit dem Schöngeistigen in Kontakt. 1933 beginnt Kunz, mit dem Pendel zu arbeiten, und entdeckt ihre Begabung für die Naturheilkunde, über die sie zum Zeichnen gelangt. 1938 entstehen aus Eingebung die ersten Zeichnungen auf Millimeterpapier, und bis 1960 gestaltet sie etwa 400 meist grossformatige Arbeiten in Farb- und Bleistift, selten in Öl- oder Wachskreide. Kunz versteht sich nicht als Künstlerin, sondern stellt ihre Zeichnungen ganz in den Dienst ihres Wirkens als Forscherin. 1951 übersiedelt sie nach Waldstatt im Kanton Appenzell Ausserrhoden, wo die Naturheilkunde frei praktiziert werden darf. Die Beachtung durch die Wissenschaft, der sie ihr Wissen zur Verfügung stellen will, bleibt ihr aber verwehrt.
Das von den Farben Rot und Blau dominierte Sammlungswerk „Nr. 109“ bezeichnet Kunz in ihrer im Eigenverlag erschienenen Publikation „Neuartige Zeichnungsmethode. Gestaltung und Form als Mass, Rhythmus, Symbol und Wandlung von Zahl und Prinzip“ (1953) als „Parabelfigur entstanden durch die gerade Linie nach Mass und Zahl“. Das Zentrum der beinahe quadratischen Zeichnung bildet ein achtspitziges Kreuz – eine für ihr Schaffen bedeutende Form – in den Farben Gelb und Hellblau. Von diesem ausgehend werden die Horizontale und Vertikale in blau bzw. die Diagonalen in blau-weiss zu den Bildrändern hin verjüngend weitergeführt. Die zentrale Sternfigur ist Teil einer netzartigen Struktur, die durch die Verbindung von Punkten auf den farblich betonten Achsen mit Punkten auf den Parabeln gebildet wird. Vier blaue Dreiecke grenzen sie ein, und die Ecken laufen in roten pfeilförmigen Formen aus.
Zu Beginn des Entstehungsprozesses stehen nach Kunz‘ Vorgehen bestimmte Fragen, Probleme oder Situationen von Hilfesuchenden oder von ihr selbst. Darauf basierend erschafft Kunz mithilfe einer kleinen Holztafel, über der sie pendelt, die Aufzeichnungen auf Millimeterpapier. Der inneren Vision folgend, setzt sie Schwerpunkte und zieht Hauptlinien, die den Charakter ihrer Kompositionen bestimmen. Kunz selber soll immer gesagt haben: „Alles geschieht nach einer bestimmten Gesetzmässigkeit, die ich in mir fühle und die mich nie zur Ruhe kommen lässt.“ Das Wesentliche für Kunz ist die in den Zeichnungen manifestierte Botschaft, die sie imstande ist zu interpretieren und in Erzählungen ihren Mitmenschen mitteilt. Von Bedeutung ist Kunz‘ bewusster Verzicht auf schriftliche Erklärungen und ihr Verbot, Gesagtes aufzuzeichnen oder niederzuschreiben.
Kunst ist für Kunz kein Ziel, sondern Mittel. Ihre Bilder entstehen nicht aufgrund eines freien schöpferischen Willens, sondern unter einem inneren Zwang, der jede Farbe, jede Form und jeden Strich bestimmt. Dennoch muss Kunz ein künstlerisches Talent zugesprochen werden, sind ihre Zeichnungen doch mehr als schematische Übersetzungen dessen, was ihr eingegeben wird. Die ästhetische Qualität der Werke fasziniert, auch wenn ihr tieferer Sinn bis zum heutigen Zeitpunkt nicht vollends erschlossen werden kann.
Karoliina Elmer