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Eva Wipf, Schrein II, Um 1975
Diverse Materialien, 54 x 46 x 15 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau
Copyright: Nachlass Eva Wipf, Pfäffikon ZH

Christliches Gedankengut ist der als Tochter eines Missionars in Brasilien geborenen Eva Wipf (1929–1978) gleichsam in die Wiege gelegt. Und die christliche Bildwelt lernt Wipf bereits als junge Frau auf ihren Reisen zu den Kunststätten Italiens, etwa nach Florenz, kennen. Auf diese Weise verinnerlicht sie schon früh religiöses Denken und religiöse Symbolik. Die christliche Ikonografie prägt denn auch ihr gesamtes künstlerisches Werk. Vorerst rekreiert sie in ihrer Malerei die christlichen Themen der Renaissancekunst im Stile der Neuen Sachlichkeit: Der Paradiesgarten wird zur kosmologischen Darstellung, die Stadt zum Himmlischen Jerusalem, die nicht selten versteinerten Szenerien sind mit bedeutungsschweren Motiven wie Gefässen, Räderwerk, Heiligengestalten versehen. Wipf selbst hängt aber keinem Glaubenssystem an. So gibt es trotz der eindringlichen Symbolik kein moralisches Urteil. Es sind Blicke auf die Welt, Metaphern für das Sein.

In besonderem Masse gilt dies für das erst in den späten 1960er-Jahren einsetzende plastische Schaffen. Wipf eignet sich die Errungenschaften der Nachkriegsavantgarden an, etwa der Fluxusbewegung, die in der Schweiz besonders prosperiert – Jean Tinguely, Dieter Roth oder Daniel Spörri gehören zu ihren Exponenten –, oder der Pop Art. Die Kunstform der Assemblage – in Übertragung des Prinzips der Collage werden aus unterschiedlichsten „gefundenen“ Gegenständen und Materialien neue Objekte zusammengesetzt – behagt Wipf und wird fortan zu ihrem Markenzeichen. Dabei konstituieren ihre Assemblagen Werke, die geradezu in liturgische Zusammenhänge eingebunden sein könnten. Tabernakel, Schreine und Altäre mit Kreuzen, Räderwerk, Rosetten, Kelchen, Leuchtern, Bäumen, Säulen, Dornen, Nägeln: Auch hier schöpft Wipf, sowohl was die Bildlichkeit wie die formalen Eigenschaften betrifft, aus der sich über Jahrhunderte gefestigten religiösen Kunst.
Erstaunlich reduziert kommt das Werk mit dem Titel „Schrein II“ daher. Im schlichten Holzkasten befinden sich ein paar nicht klar identifizierbare Gegenstände, eigentlich sind es Formenfragmente. Insofern lebt das Werk von Andeutungen, es löst aufgrund von Analogien zu Bekanntem Assoziationen aus. Genau hier offenbart sich der Kern der Kunst von Eva Wipf: Fern jeder Moral operiert sie zwar mit der ganzen Palette menschlicher Werte und Befindlichkeiten, eliminiert dabei aber die Gegensätze nicht, sondern anerkennt sie als untrennbar einem Ganzen zugehörig. Gut und Böse, Freud und Leid, Lust und Schmerz sind die zwei Seiten derselben Medaille und die zwei Seiten unserer Existenz. Niemand weiss dies besser als Eva Wipf selbst, deren Leben aus einem unaufhörlichen Wechsel der Stimmungen, von Hochs und Tiefs bestand. So sind die Betrachter und Betrachterinnen angesichts von „Schrein II“ sich selbst überlassen, herausgefordert von der vollkommenen Form eines Kreises, an dessen Zentrum, gleichsam als Radnabe, eine Art Hebel befestigt ist. Er erinnert an die Figur des Gekreuzigten und scheint wie ein Damoklesschwert, aber in Umkehrung der Gefährdungsrichtung, über einer Reihe bedrohlich spitzer Nägel zu pendeln. Die Materialien strahlen zugleich die Wärme des Holzes wie die Kälte und die rohe Wucht des geschmiedeten Eisens aus.

Die Verbindung von Kunst und Leben steigert sich in ihren letzten Lebensjahren so sehr, dass Wipf ihre Werke immer stärker als Ikonen und Fetische in einem spirituellen Lebenszusammenhang denn als reine Artefakte zu verstehen beginnt. Sie verwandelt sogar den Küchenschrank in ihrer letzten Heimstätte in Brugg in einen Alchemistenschrein, ja erklärt das ganze Haus zum Behältnis.

Peter Fischer

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