Öl auf Leinwand, 205 x 167 cm
Es hat sich nicht viel verändert im Lauterbrunnental im Berner Oberland, seit Alexandre Calame im Jahr 1837 seine Ansicht auf den Wasserfall des Staubbach in Öl gemalt hat. Noch touristischer ist es heute an diesem Ort, der bereits 1779 Johann Wolfgang Goethe zum Verfassen seines Gesang[s] der Geister über den Wassern veranlasste. Der stäubende Wasserfall, der von Wind und Sturm getrieben einen unheilvollen Schleier über die harten und kantigen Felsen wirft, wird auch von Calame nicht weniger sagenumwoben umrissen. Bereits einige Jahre zuvor hatten Künstler wie Adam Toepffer oder Calames Lehrmeister François Diday das unwirtliche Berggebiet in ihren Gemälden für ein breites Publikum visuell erschlossen. Trotzdem gelingt es auch dem 1810 in Vevey geborenen Calame in seinem Bild auf die Eigenheiten dieser bedrohlichen Naturgewalt aufmerksam zu machen und sie in einer zeitlosen Darstellung für die Nachwelt festzuhalten.
Im Jahr 1835 unternimmt Calame seine erste Reise ins Berner Oberland und fertigt erste Studien der Handeck an. Obwohl er im Alter von zehn Jahren ein Auge verlor, unternimmt er im Laufe der Jahre immer wieder beschwerliche Touren in den Alpen und hält das Gesehene anschliessend im Atelier in imposanten und grossformatigen Ölgemälden fest. Mit seinen spätromantischen Landschaftsbildern entsprach Calame den Forderungen einer Heimatmalerei, in der sich die Naturbeobachtung als lyrischer Prozess offenbart. Besonders der Staubbach zeugt von Calames Bestreben, die idyllische Bergkulisse künstlerisch als Schauplatz eines effektvollen Naturspektakels zu inszenieren. Dazu gehört vor allem die stilistische Ausarbeitung von Gegensätzen, was sich nicht nur in der Verwendung eines eindrücklichen Chiaroscuro (Schatten-Licht-Malerei) bemerkbar macht.
In dieser extremen Ausreizung eines naturalistischen Stimmungscharakters stehen sowohl Calame als auch Diday für eine nationale Landschaftsmalerei, die den modernen Bestrebungen des französischen Realismus eine eigene, weniger von den sozialen und politischen Umwälzungen geprägte, Kunstauffassung entgegensetzte. Dieser inneren Welt verpflichtet malte Calame später auch seine berühmten Ansichten der Region um den Vierwaldstättersee. Seine Gemälde prägen bis heute das Bild der Schweiz als mythische und naturbelassene Alpenregion.
Bassma El Adisey