Acryl auf Papier, 180 x 160 cm
Max Matter (*1941) feiert in den 1970er-Jahren mit seinen gesprayten Pop-Art-Bildern grosse Erfolge und beurteilt heute rückblickend: „Jene Bilder hätte ich produzieren können, davon hätte ich leben können.“ Er wendet sich jedoch von ihnen ab, da sie alsbald Wohnräume jener Architektur schmückten, gegen die sich Matters Kritik richtete. Die Erkenntnis, dass der kritische Inhalt seiner Malerei sich gegen die Macht der Kulturindustrie nicht durchsetzen kann, sondern von ihr vereinnahmt und Teil davon wird, bleibt Matter nicht erspart. Daraus zieht der Künstler Konsequenz: Er engagiert sich ab 1973 im Aargauischen Kuratorium, der kantonalen Kulturförderungsstelle, und in seinem Beruf als Zeichenlehrer an der Alten Kantonsschule in Aarau. Zusätzlich entwickelt sich die Kunst im öffentlichen Raum zu einem wichtigen Aufgabenfeld, wofür Matter zahlreiche komplexe Konzepte erarbeitet.
Wie auch bei anderen Mitgliedern der Ateliergemeinschaft am Ziegelrain vollzieht sich in Matters Schaffen Mitte der 1970er-Jahre ein Wechsel. Er richtet seinen Fokus auf die eigene Person: auf seinen Körper, seinen Kopf sowie sein Denken, seine Position als Mensch im Verhältnis zum umfassenden Raum mit seinen kosmischen, universellen Dimensionen. Getrieben von einer Neugier wird Matter zum Forscher, der bereits existierende sowie eigens entwickelte Methoden einsetzt, um zu Resultaten ausserhalb seines Vorstellungshorizontes zu gelangen.
Um 1973/74 entstehen erste Werke und Objekte, mit denen Matter in eigenen Worten folgenden Absichten nachgeht: „Meine Arbeit stellt für mich eine Möglichkeit dar, Dinge, die ich weiss, die ich über die Schule und durch Adaption von Einsichten anderer integriert habe, für mich ganz persönlich zu erfahren, die Welt zu erfinden, die schon tausendfach erfunden und erfahren worden ist, die ich aber bisher im Sinne einer Fremderfahrung mir angeeignet hatte. Es ist ein Wiederlesen und Wiederfinden: Der Mensch und das All. Der Körper als Ordnung in einer weiter gefassten Ordnung. Die Extremitäten als Messinstrumente. Der Mensch, der sich am Aussen misst. Der Mensch, der das Aussen an sich misst. Die Verhältnisse zwischen Körper und All. Die Existenz als Dreieck von Geist, Körper und All.“
„Stundenbild“ gehört zu einer Werkgruppe konzeptueller Ausrichtung, die ab 1978 entsteht. Im Gemälde breitet sich eine immense Anzahl farbiger Tupfen flimmernd vor den Augen des Betrachtenden aus. Wie eine ungegenständliche, pointillistische Arbeit muten sie an. Die ausführliche Benennung „Stundenbild (330096 Farbmarken in 24 Farbtönen)“ umschreibt genau, was der man sieht. Das Bild zeigt somit nicht mehr, als der Titel beschreibt. Matter scheint sich damit der sprachphilosophischen Position des Konzeptkünstlers Joseph Kosuth (*1945) anzunähern, nach der ein Kunstwerk gemäss seiner spezifischen Beschaffenheit nur zu Aussagen imstande sei, die sein eigenes Wesen angehen. Weiteren Aufschluss gibt der Hinweis auf der Rückseite des Bildes: „Für 330096 gelebte Stunden je eine Farbmarkierung“. Rechnungen ergeben, dass der 1941 geborene Künstler die Darstellung im Spätherbst 1978 geschaffen haben muss. Es handelt sich, wie die Erläuterung auf der Rückseite bestätigt, um ein konzeptuelles Werk, dessen Idee die Essenz bildet. Matter belässt es aber nicht bei der blossen Formulierung, sondern die Ausführung bleibt bedeutender Teil des Entstehungsprozesses. Es scheint geradezu zwingend, dass die zeitliche Dauer des gelebten Lebens der Dauer des Machens zu entsprechen hat. Der Begriff „Stundenbild“ erinnert an das Stundenbuch, das mittelalterliche Andachtsbuch mit nach dem Tagesablauf aufgeführten Gebeten. Matter bemüht sich um eine adäquate Darstellungsform für sein gelebtes Leben bis zum Zeitpunkt der Entstehung von „Stundenbild“ und setzt die Dauer visuell mit den Mitteln der Malerei um.
Karoliina Elmer