Öl und Acryl auf Leinwand, 190 x 135 cm
Giacomo Santiago Rogado (*1979) zählt zu einer Generation junger Künstlerinnen und Künstler, die sich gezielt dem altehrwürdigen Medium der Malerei zuwenden. Er fragt nach ihren Konzepten, Verfahren und Erscheinungsweisen und – zentral – nach ihrer Wirkung auf den Betrachter. Mit seinen illusionistischen Bildern strebt der aus Luzern stammende Künstler eine Verfeinerung unserer Wahrnehmung an und bedient sich hierfür unterschiedlichster Bildtraditionen. Wir begegnen Versatzstücken aus dem Barock, der Romantik, der konstruktiven Bildsprache der 1950er-Jahre, der Op-Art oder dem Surrealismus. Gleichzeitig führen in Rogados Bildern Abstraktion und Figuration ein symbiotisches Zusammenleben. Malerei schliesst Zeichnung nicht aus; Farbe und Farblosigkeit sind gleichberechtigt.
Das Aargauer Kunsthaus fördert Rogado durch den Ankauf der 2005 entstandenen Arbeit „Tagen“. Als Frühwerk steht das Bild am Anfang einer Reihe von Entwicklungen, die in seinem Œuvre bis heute Gültigkeit haben. Beispielsweise zählt es zusammen mit einigen weiteren, zeitgleich mit Rogados Abschluss an der Kunsthochschule Luzern entstandenen Arbeiten zu den ersten Gemälden, in denen er figürliche und abstrakte Elemente verbindet. Damit initiiert er ein Vorgehen, dem wir in seinen folgenden Werken wiederbegegnen – zum Beispiel in den geometrisch-abstrakten Kompositionen, in die Öffnungen auf ein gegenständliches Motiv eingelassen sind, oder in den Kleidungsstücken von Porträtfiguren, die an Magritte erinnernde Ausblicke auf Wolken- oder Horizontlandschaften freigeben. Zugleich erweisen sich die frühen Arbeiten illustrativer als die späteren. Die figürlichen Elemente scheinen mit schneller Hand aufgebracht – wie comicartige Fragmente aus der Vergangenheit, häufig in der Ästhetik der 1940er-Jahre. In „Tagen“ blicken wir in einen Innenraum, der durch je ein Fenster links und rechts begrenzt ist. Dem Titel zufolge sind wir geneigt anzunehmen, dass das rechte helle Fenster die ersten Stunden des anbrechenden Tages verkörpert, während das schwarze für die endende Nacht steht. Zwei Jungen, beide mit ernstem Blick und nur in Unterhosen gekleidet, beleben den Raum. Einer steht leicht neben dem Bildzentrum und hält den Kopf gesenkt. Der andere beugt sich vornüber, als würde er sich verneigen. Wir fühlen uns vielleicht an Robert Walsers „Jakob von Gunten“ erinnert, an die strengen Regeln im darin beschriebenen Internat, die steten Gehorsam fordern und die hartnäckige Angst hervorrufen, sich falsch zu verhalten. Was die Jungen ausgeheckt haben mögen und wem ihre Demut gilt, bleibt ungewiss, und auch wo wir uns befinden, lässt Rogado offen. Eine Geschichte ist angedeutet, ihre Spuren verlieren sich aber in der abstrakten Bildebene, mit der Rogado weite Teile des Raums füllt. Wie ein Teppich legt sich eine bunte Struktur über den unteren Bildbereich. Daraus entwächst ein weisses Muster, das kaum mehr als die Hauptmotive – die beiden Jungen und die Fenster – freilässt. Die mit Ölfarbe gemalte, figürliche Szenerie in nostalgischem Schwarzweiss steht im Gegensatz zur bunt vibrierenden Ornamentik der abstrakten Struktur. Die Verschränkung der beiden konträren Sphären schafft einen Schwebezustand, der mehr Traum als Realität ist, mehr Andeutung als Erzählung.
Yasmin Afschar