Tinte, Gouache auf Papier, 65 x 50 cm
Louis Soutters (1871 – 1942) aussergewöhnliche Biografie beginnt zunächst vielversprechend: Aus einem grossbürgerlichen, gebildeten Elternhaus in Morges stammend, wird er mit 21 Jahren Schüler des bekannten Geigers Eugène Ysaÿe, Professor am Königlichen Konservatorium in Brüssel. Ysaÿe ist es auch, der Soutter mit der Malerei in Kontakt bringt, und schon bald schwankt der Vielbegabte zwischen den beiden Künsten. Schliesslich gibt er die Musik zugunsten der Malerei auf und lässt sich in Lausanne und Paris ausbilden. Mit Madge – eine junge Amerikanerin, die er bereits in Brüssel kennenlernte, und seine zukünftige Ehefrau – übersiedelt Soutter 1897 in die USA und übernimmt dort die Leitung der Kunstabteilung am Colorado Springs College. Bald darauf kommt es zum bis heute ungeklärten Bruch im Leben des Künstlers: Als geschiedener Mann kehrt Soutter 1903, in einem psychisch und physisch schlechten Zustand, in die Schweiz zurück. Er tritt vereinzelt als Musiker, nicht mehr aber als Maler in Erscheinung. 1923 – er ist mittlerweile 52 Jahre alt und hat längst den Ruf des verrückten Originals inne – lässt ihn seine Familie aufgrund seines exzentrischen und unproduktiven Lebensstils in ein Altenheim im jurassischen Ballaigues einweisen. Schwer unglücklich wird er dort die nächsten 19 Jahre bis zu seinem Tod verbringen.
Ist die aufgezwungene Isolierung für den Menschen Soutter eine riesige Tragödie, so scheint sie seine Kunst geradezu neu zu erwecken. Er beginnt mit dem Zeichnen, füllt zahlreiche Schulhefte mit Tinte und Tusche. Diese Arbeiten lassen sich in keiner Weise mit seinem Frühwerk vergleichen. Ab 1937 entstehen aufgrund einer fortschreitenden Arthrose und einer immer stärker werdenden Sehschwäche Soutters berühmte Fingermalereien, wozu auch das Werk „The Empty Cross“ zählt. Soutter trägt die Tinte, oft auf dem Boden liegend, direkt mit den Fingern auf das Papier auf. Durch verschiedene Intensitäten seines Fingerdrucks changiert die Farbe der Tinte von einem hellen Grau bis zu einem satten Schwarz. Daraus entstehen die dunklen, wie Schatten wirkenden länglichen Figuren. In „The Empty Cross“ sind vier von ihnen zu sehen, teilweise hat Soutter sie mit Gouache koloriert. Sie alle streben zu dem titelgebenden „leeren Kreuz“, strecken gar die Arme nach ihm aus, und man fragt sich, ob diese Figuren tanzen oder wehklagen. Das Symbol des Kreuzes ist zum Entstehungszeitpunkt der Zeichnung schon länger ein wiederkehrendes Motiv bei Soutter. Nicht immer ist klar ersichtlich, ob es dabei eine inhaltliche oder formale Bedeutung innehat.
In „The Empty Cross“ beschreibt Soutter eine Situation des Übergangs, erfasst eine Gleichzeitigkeit von Präsenz und Absenz, die unwillkürlich Beunruhigung auslöst und für den Betrachter nur schwer auszuhalten ist. „The Empty Cross“ war 2011 schon einmal namensgebend für eine Ausstellung im Museum Folkwang in Essen, in der Werke der Schweizer Sammlung Raguse-Stauffer gezeigt wurden. Aus dieser Sammlung, die zahlreiche Arbeiten von Louis Soutter enthält, gelangte das Blatt 2016 als Schenkung ins Aargauer Kunsthaus.
Bettina Mühlebach