Diverse Materialien, 125 x 53 x 20 cm
Wovor hatten Sie 2020 am meisten Angst? Dem beinahe alles beherrschenden Coronavirus? Vor Zeitdruck auf der Arbeit? Der omnipräsenten Klimakrise? Die brasilianische Künstlerin Rivane Neuenschwander (*1967) setzt sich schon lange mit dem Entstehen von Ängsten auseinander und wie diese zum Ausdruck kommen. In ihrem Werkkomplex The Name of Fear (seit 2013) wird dem Gefühl der Angst eine physische Form gegeben. Dafür arbeitete Neuenschwander mit Schulklassen in Rio de Janeiro, London und – exklusiv für die Ausstellung Kosmos Emma Kunz (2021) im Aargauer Kunsthaus – mit Kindern aus Suhr und Rothrist zusammen. Im Frühling und Herbst 2020 fanden in Aarau zwei Workshops statt, in denen die Schulkinder ihre Ängste formulierten und anschliessend in Zeichnungen und dreidimensionalen Umhängen aus unterschiedlichen Materialien darstellten. Dabei sind auch Überlegungen eingeflossen, wie ein Umhang aussehen soll, damit er die eigenen Ängste nicht nur visualisiert, sondern zugleich vor ihnen schützt. Die Ergebnisse entwickelte die Künstlerin zusammen mit einem Modedesigner zu textilen Schutzmänteln, sogenannten Capes, weiter.
Die Umhänge sind einerseits Momentaufnahmen von gesellschaftlichen Befindlichkeiten und somit stark mit ihrer Entstehungszeit und ihrem Entstehungsort verknüpft, wie etwa das eingangs erwähnte Coronavirus oder die Angst eines brasilianischen Kindes vor der Dengue-Mücke. Andererseits sind viele der genannten Ängste universal und zeitlos: die Angst vor dem Tod, vom Alleinsein oder vor Traurigkeit. Während konkrete Ängste wie die Furcht vor Kekskrümeln sehr direkt und manchmal auch mit einer Prise Humor umgesetzt werden – am besagten Cape hängen zahlreiche runde braune Filzstücke – werden weniger klar fassbare Sorgen oder Phobien freier interpretiert: Traurigkeit wird als überlanges Cape gestaltet, bei welchem eine schwarze Flosse hinter sich hergezogen werden muss. Die fünf Aarauer Umhänge kombinieren jeweils zwei Ängste miteinander. So wird aus der Furcht vor giftigen Tieren und der Angst vor Zeitdruck ein raupenförmiges, glitzerndes, mit Pailletten und Glöckchen besetztes Kleidungsstück. Eine schwarze Weste mit acht roten langen Plüscharmen respektive -stacheln verweist auf die Angst vor Spritzen wie auch vor Mobbing. Bei letzterem kommt die Schutzfunktion des Capes sehr offensichtlich zu tragen. Neuenschwander bezieht sich damit explizit auf ein soziales und psychologisches Wirkungspotenzial von Kunst, das einen wichtigen Bestandteil ihrer künstlerischen Arbeit bildet. Nicht weniger bedeutsam ist in ihrem Schaffen der kooperative und partizipative Aspekt: Bei The Name of Fear sind die Kinder aufgrund ihrer Entwürfe Mitproduzenten der einzelnen Werke. In der Ausstellung Kosmos Emma Kunz war es zudem möglich, einige der Umhänge anzuprobieren und so aktiv an der Arbeit teilzuhaben. Dank der grosszügigen Schenkung der Künstlerin fanden die fünf Aarauer Capes ihren Weg in die Sammlung und bleiben so eng mit ihrem Entstehungskontext verbunden.
Bettina Mühlebach, 2022