1-Kanal-Video, Farbe, Ton, 104' 30''
Eine schimmernde Eisbergspitze taucht geisterhaft aus der Dunkelheit auf, um nur wenige Sekunden später wieder von ihr verschluckt zu werden. Kurz darauf geschieht dasselbe mit unberührten Schneefeldern, tosenden Wasserfällen und klaffenden Gletscherspalten. Unvermittelt erscheint am Horizont eine Lichtkugel, die die eisigen Landstriche unter ihr grell erleuchtet, bevor auch sie wieder in totaler Finsternis entschwindet. Das Wechselspiel von Hell und Dunkel wird getragen von einer vibrierenden Klangspur, welche die aussergewöhnliche Topografie auf der Leinwand körperlich spürbar werden lässt. Julian Charrière (*1987) vereint in seiner Videoarbeit Towards No Earthly Pole (2019) verschiedene Eisgefilde zu einem entrückt poetischen Kosmos, der jegliches Orientierungs und Zeitgefühl aufhebt. In aufwändiger Montage hat der Künstler im Panoramaformat eine inexistente Landschaft geschaffen, in der Aufnahmen aus Grönland, Island und den französischen und Schweizer Alpen zu einem grenzüberschreitenden Ganzen verschmelzen. Zwischen Traum und Realität mäandernd, evozieren die Bilder einen Schwebezustand, ohne ihr komplexes und hoch technisiertes Zustandekommen offenzulegen. Auf seiner Suche nach einem anderen Blickwinkel auf die Polarregionen nutzte der Künstler zwei Drohnen, die er mit Kamera und Scheinwerfer bestückte und ausschliesslich bei Nacht aufsteigen liess.
Charrière ist als ausgebildeter Künstler ebenso Forscher, Entdecker, Wissenschaftler und Archäologe. Im Austausch mit anderen Disziplinen findet er seine Inspiration. Das Interesse des Westschweizers gilt der Natur respektive ihrer kulturellen, gesellschaftlichen und geopolitischen Vereinnahmung über die Jahrtausende. In seinen künstlerischen Expeditionen setzt er sich den Naturgewalten schonungslos aus. Über zwei Jahre haben Charrière und sein Team wiederholt in der Arktis unter Extrembedingungen gedreht.
Towards No Earthly Pole fängt die Unwegsamkeit und die Fremdheit, aber auch das Verklärte und die anhaltende Magie der Eislandschaften im 21. Jahrhundert ein. Charrières Streifzug, der mit seinem dem Epitaph des britischen Polarforschers John Franklin entliehenen Titel ebenso an histo rische Forscher- und Entdeckerabenteuer anknüpft wie an literarische und filmische Polarerzählungen, erlaubt eine ungewohnte Sichtweise auf ein einzigartiges, fragiles Ökosystem. Im Gegensatz zu all den Medienberichten, Dokumentarfilmen und Statistiken zur Klimakrise, die unser kollektives Bild entlegener Regionen unablässig formen, setzt er dem sonst allgegenwärtigen gleissenden Licht der Polarzonen die Vieldeutigkeit der Dunkelheit entgegen. Erst in der Nacht, im künstlichen Licht der Drohne, offenbart sich die unheimliche Schönheit dieser Landschaften. Dabei bleibt die drohende Katastrophe paradoxerweise unsichtbar. Und so macht uns Towards No Earthly Pole die Konsequenzen menschlichen Handelns erst nach einer Weile geradezu schockartig bewusst.
Katrin Weilenmann