Öl auf Baumwolle, 175 x 265 x 2.3 cm
Gleich geht es los. Behutsam umfassen beide Hände das Turngerät, prüfen den Halt der Seile an denen die Stange befestigt ist. Noch ein letzter Blick nach oben – nur zur Sicherheit – und dann stemmt die Artistin ihr Gewicht weg vom Boden. Mehr als 30 Jahre muss es her sein, dass Ilona Ruegg das Bild der Trapezkünstlerin in einer Tageszeitung entdeckt hat und es immer und immer wieder als Ausgangspunkt für eine Werkgruppe gewählt hat, über die heute nur noch wenig bekannt ist. Die ersten Bilder mit dem Titel „Salto mortale“ wurden 1986 in der Galerie Rivolta in Lausanne gezeigt. 1988 fand „Octave (Salto mortale 10)“ als Schenkung der Barclay SA Eingang in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses.
Ilona Ruegg wurde 1949 in Rapperswil geboren und produziert seit den späten 1990er-Jahren mehrheitlich skulpturale und installative Arbeiten. Vieles, das in diesen neueren Arbeiten thematisiert wird, scheint aber schon in der Malerei der früheren Schaffensphase angelegt. Bereits die entrückte Anordnung der einzelnen Bildträger des Triptychons in Aarau greift die intensive Auseinandersetzung mit Verschiebungsprozessen auf, die beispielsweise in den Werken der Ausstellung „DROP OUT“ im Jahr 2013 im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil gezeigt wurden. Ihrer ursprünglichen Funktion entzogen fallen Rueggs Objekte buchstäblich aus dem Rahmen und lassen sich, für den Zeitraum der Exposition, nirgendwo richtig zuordnen. In der Schwebe befindet sich auch die Trapezkünst-lerin und der latente Verweis auf ein ungewisses Dazwischen zieht sich im Triptychon des Jahres 1987 auf formaler Ebene weiter. Eingekeilt zwischen luftleeren Abstraktionen klingt der Titel des Werks nach – auch die „Octave beschreibt das Intervall zwischen zwei Tönen.
„Octave (Salto mortale 10)“ verrät einiges über Rueggs Aneignung einer trivialen Bildsprache. Dem ursprünglichen Kontext der Manege entzogen, gelingt es Ruegg, das Spektakel des Zirkus auszublenden. Vom Zeitungsbild geblieben ist vielleicht lediglich das warme Licht der Scheinwerfer. Wie aus vielen gelben und ockerfarbenen Leuchtpunkten zusammengesetzt, erinnert vor allem die Rasterung des Mittelteils an die organische Gewebestruktur von Honigwaben. Hier bleibt der Blick kleben, nur um wenig später von den Unregelmässigkeiten in der Gitterstruktur der rechten Bildhälfte wieder in Bewegung gesetzt zu werden. Dort werden die Farbtupfer weniger distinkt,verwischen sich und drohen, wie die Kinnlinie, die von Ruegg mit dunkleren Brauntönen angedeutet wurde, mit dem gräulichen Hintergrund zu verschmelzen.
Rueggs malerischer Übertragunsprozess mag den Porträtausschnitt der Fotogra-fierten zur schieren Unkenntlichkeit dekonstruiert haben; gleichwohl eröffnet die Künstlerin im gesamten Werkzyklus einen kritischen Diskurs zur intuitiven Lesbarkeit figurativer Darstellung. Als Künstlerin, die dem Bild misstraut, fordert Ruegg in dieser frühen Arbeit zu einer differenzierten Betrachtung der einzelnen Bildvokabeln auf. Hinsichtlich des vorgängigen Vergleichs mit den Honigwaben erinnert die Darstellung auf den beiden ungleich grossen Seitentei-len in Farbgebung und formaler Gliederung an den kunstvollen Aufbau eines Bienenstocks. Wabe an Wabe reiht sich aneinander, bis ein imposantes Gerüst aus Wachs entsteht – ähnlich verhält es sich auch mit Bildern. Einzelne Farbtupfer lassen ein Gewebe entstehen, das nicht nur zu einer abgeschlossenen Form der Betrachtung gerinnt. Darüber hinaus verweist Rueggs Werk auf die Vielschichtigkeit künstlerischer Darstellung, in der jedes Bild wieder zum Auftakt neuer Imaginationen und Denkansätze genutzt werden kann.
Bassma El-Adissey