Öl, Kohle und Lackspuren auf Holzspanplatte, 210 x 360 cm
Er sei der besessenste Realist, den er kenne. Mit diesen Worten würdigte Hugo Lötscher (1929–2009) den Maler und Freund Willy Guggenheim alias Varlin (1900–1977) in einem Text von 1975, weniger auf den Stil und die Vorstellung von Abbildtreue zielend, als auf den Mut zur Wahrheit, trotz ständigen Zweifelns. Diese Wahrheitssuche vollzog sich für Varlin stets in seiner jeweiligen Umgebung und äusserte sich, entgegen den Zeitströmungen, in einer konsequent gegenständlichen Malweise vor dem Objekt. Früh schon richtete der Künstler den Blick dabei auf die undramatischen Seiten des Alltags. Es entstanden Stadtlandschaften und später, als der Rückhalt von Seiten des engeren Umkreises und visionärer Ausstellungsmacher endlich in offizielle Anerkennung überging, immer häufiger auch abgründige, von der Brüchigkeit des Daseins kündende Porträts.
Nebst den Werken, in denen der Porträtgedanke im Vordergrund steht, umfasst Varlins Œuvre eine Reihe von Figurenbildern, in denen einfache Menschen – Marktfahrer, Clochards oder Reisende in Wartesälen – als verstreutes Personal alltäglicher städtischer Szenen auftreten. Dazu zählen auch etliche, teils monumentale Interieurs, die sich durch ihre Taumel erzeugende, an van Gogh angelehnte Behandlung der Innenräume auszeichnen. Steil in die Tiefe fluchtend, wecken sie trotz ihrer Grösse oft ein Gefühl von Beengtheit, Verlorenheit oder Ennui. Das Grossformat „Ballsaal des Palace Hotels in Montreux“ mit den nolens volens für den Maler posierenden Kellnern und Servicegehilfen, die in ihrer Vielzahl angesichts der abgereisten Klientel befremden, liefert hierfür ein vielsagendes Beispiel. Im Herbst 1968 nach Saisonende vor Ort begonnen, als Varlin wie öfters im Zeitraum 1966 bis 1969 auf Einladung eines Sammlers in Territet weilte, und im Frühjahr in Zürich noch einmal überarbeitet [1], zeigt es den Festsaal des Hotels in einer nonchalanten Mischung aus Skizzenhaftigkeit und Detailfreude. Humorvolle Elemente wie die wegen der Spiegelungen auf dem glatten Parkett gleichsam schwebende Dreiergruppe am rechten Bildrand und die zu Schleiertänzerinnen umgedeuteten Karyatiden direkt darüber setzen Akzente und brechen das Prunkvolle herunter. Analog dazu wird die Erwartung an das edle Ambiente eines Grandhotels auch materiell unterlaufen, da Varlin als Malgrund statt Leinwand zwei raue Pressholzpaneele wählte und dafür sorgte, dass diese im Wechsel mit deckenden, teils ungewohnt farbintensiven Partien grossflächig mitsprechen.
Thematisch reiht das Gemälde sich ein in eine lockere Folge von Darstellungen mondäner Orte, die im Gesamtwerk dem Spektrum weniger erbaulicher Stätten wie Gefängnissen, Heilanstalten, Hospizen oder Friedhöfen gegenübersteht und die 1930, als Varlin noch in Paris lebte, mit Ansichten der Uferpromenade von Nizza einsetzt. Zwischen 1939 und 1945, als der Künstler schon einmal wiederholt am Genfersee weilte, kamen Ansichten eleganter Hotels in Lausanne-Ouchy hinzu, auf die ihrerseits in den 1950er-Jahren Beispiele aus Brissago und Luzern folgten. Nicht unbedeutend scheint, dass Varlin sich dabei zumeist auf die Fassaden beschränkte oder gar nur den Eingangsbereich malte, als wolle er unterstreichen, dass sich dahinter eine für den Mann von der Strasse unzugängliche Welt auftut. Das 1978 aus der posthumen Aarauer Retrospektive erworbene Ballsaal-Bild, das zu den Hauptwerken zählt, bricht mit dieser Regel – wenn auch nur, um gleich im nächsten Moment die Sympathien des Malers für die Welt der einfachen Leute im entlarvenden, ja sarkastischen Blick auf den noblen Arbeitsplatz neu zu bekräftigen.
[1] Für eine Abbildung der Erstfassung siehe das im März 1970 erschienene DU-Heft Varlin und das 7. Jahrzehnt, S. 186–187. Erhalten hat sich zudem eine Schwarzweiss-Fotografie, die den Künstler im Ballsaal bei der Arbeit zeigt.
Astrid Näff