Öl auf Leinwand, 59 x 48 cm
Josef Reinhard (1749–1824) hat sich in erster Linie einen Ruf als Trachtenmaler erarbeitet. Darüber hinaus lobt die Geschichtsschreibung stets seine Meisterschaft als Porträtist der ländlichen Bevölkerung in der Schweiz, die er in seinen Trachtenzyklen wirklichkeitsnah wiederzugeben vermag.
Sechzehnjährig reist Reinhard dank Unterstützung des Rates der Stadt Luzern nach Italien, um dort eine Ausbildung zum Maler zu absolvieren. Er wird zunächst vier Jahre in Lucca an der Accademia degli Oscuri sowie anschliessend in Rom an der Accademia di San Luca bei Niccolò Lapiccola (1730–1790) unterrichtet. Reinhard erhält Lektionen in den klassischen Fächern, zu der auch das Studium der grossen Meister zählt. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Reinhard dem Schaffen Raffaels (1483–1520), mit dem er sich über einen langen Zeitraum auseinandersetzt. In seinen Arbeiten, insbesondere in den späteren Trachtenbildern, ist die am klassischen Vorbild ausgerichtete Körperauffassung zu erkennen.
1773 kehrt er nach Luzern zurück, wendet sich in der Stadt und im Umland der Kirchenmalerei zu. Bereits in den Deckengemälden der Pfarrkirche Entlebuch von 1779 manifestiert sich Reinhards Interesse an der Porträtmalerei, denn er orientiert sich bei der Gestaltung der Apostelgesichter an den Zügen Einheimischer. Nachdem Reinhard die Schultheissenporträts für das Luzerner Rathaus zufriedenstellend ausführt, wird er 1784 mit dem Hintersassen-Recht belohnt, einem privilegierteren Niederlassungsrecht. Sein erhöhter sozialer Status bringt ihm viele Bildnisaufträge von mächtigen Familien ein. Reinhard ist zu einer Zeit grosser politischer Umwälzungen tätig, die auch die künstlerische Auftragssituation einem tief greifenden Wandel unterziehen: Der Künstler entwickelt sich vom Auftragsempfänger der Obrigkeit zum Kleinunternehmer.
1784 wendet sich auch der Aarauer Seidenbandfabrikant Johann Rudolf Meyer (1739–1813) mit dem Auftrag an ihn, eine Porträtserie von Schweizerinnen und Schweizern in ortsspezifischer Bekleidung zu malen, mit der Reinhard bis 1797 beschäftigt ist: Etwa 150 Gemälde erschafft er in diesen Jahren. Von 1796 bis 1802 widmet er sich dem zweiten Trachtenzyklus, den er in einer Dauerausstellung der Öffentlichkeit zugänglich macht.
Jahrelang bereist Reinhard die verschiedenen Gegenden der Schweiz, um im direkten Kontakt mit der Bevölkerung Modelle zu finden. Die vorliegende Darstellung wird den ersten Arbeiten für die Trachtenserie zugeordnet. In der Entstehungszeit des Bildes zwischen 1788 und 1790 malt Reinhard hauptsächlich in der Umgebung von Luzern. In derb-realistischer Manier hält der Künstler den Innerschweizer Caspar Reinhard, wie auf der Rückseite vermerkt Bauer im oberen Löchli, in Dreiviertelansicht fest. Reinhard zeigt den Porträtierten mit faltigem Gesicht, buschigen Augenbrauen und spriessendem Bartwuchs. Auf dem Kopf trägt der Bauer eine dunkelbraune Kopfbedeckung, unter dem sein ergrautes Haar bis zu den Schultern hinabfällt. Gekleidet ist er mit Weste und weissem Hemd, dessen Kragen um den Hals von einer Schleife umfasst wird. Obwohl er seinen Blick aus dem Bild richtet, schaut er an uns vorbei.
Die zahlreichen Einzeldarstellungen der Trachtenserien werden im Konvolut zum Porträt eines ganzen Volkes. Die Trachten drücken in ihrer bunten Vielfalt gleichzeitig die freiheitliche Entwicklung in der Schweiz und die übergeordnete Einheit aus. Damals schrieb man diesen Gewändern noch keine bedeutende Tradition zu. Es handelte sich vielmehr um eine neu wahrgenommene Attraktion, in der die städtische Gesellschaft das Ideal des in Freiheit lebenden Berg- und Bauernvolks erkannte. Dank der druckgrafischen Vervielfältigung finden Reinhards Bilder weite Verbreitung und sind zu seiner Zeit äusserst beliebt. Für die Trachtenforschung bedeutet ihre realistische Darstellungsweise des ländlichen Lebens eine wichtige Quelle des 18. Jahrhunderts.
Reinhard kommt das Verdienst zu, dass er durch das Interesse und die Freude an seinem Gegenüber zu Abbildungen gelangt, die das persönliche Wesen erfassen. Er konzentriert sich auf das Gesicht, steigert die Mimik und lässt Hintergründe sowie Details weg. Wichtig ist dem Künstler, die charakteristischen, wiedererkennbaren Züge einzufangen – oftmals mit Witz, stets aber mit gebührendem Respekt.
Karoliina Elmer