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Heidi Bucher, Bodenhaut (Ahnenhaus Obermühle), Parkett, Raum 12, 1. Obergeschoss, 1980
Jute, Latex und Farbe, 365 x 405 cm
Aargauer Kunsthaus / Depositum der Schweizer Eidgenossenschaft, Gottfried Keller-Stiftung

Die Präzisierungen zum Werktitel deuten es an: Die Ahnenhaus-Häutung, an die sich die Winterthurer Künstlerin Heidi Bucher (1926–1993) im Sommer 1980 mit einem kleinen Team von Helferinnen und Helfern wagt, ist ein Vorhaben beachtlicher Dimension. «‹Die Haut abnehmen von Allem?›», fragt sie im Film «Räume sind Hüllen sind Häute», den sie mit dem Winterthurer Produzenten Georg Reinhart während des mehrmonatigen performativen Prozesses sowie einiger spektakulärer Folgeaktionen dreht. Und bedächtig ergänzt sie: «‹Ja, von Allem. Den Böden, den Wänden, den Fenstern, den Öfen, den Kästen, den Ofentürchen, den Nischen, den Decken… Den Decken? Nein.»

Rund 35 Räume auf vier Etagen plus Soussol und Dachstock zählt das sogenannte Ahnenhaus. Gemeint ist damit die vormalige Obermühle im Winterthurer Mattenbachquartier, ein Gebäude mit Baujahr 1741, in dem einst Buchers Grosseltern väterlicherseits, Emma Müller geb. Ziegler-Sulzer und Karl Christian Müller-Ziegler lebten, und das in der Künstlerin ambivalente Erinnerungen weckt. Als Heidi Bucher das Projekt initiiert, steht der geschichtsträchtige, direkt neben der Villa Flora gelegene Bau schon längere Zeit leer. Er ist stark sanierungsbedürftig und soll – parallel zur Erweiterung der angrenzenden Berufsfachschule – entkernt und in städtische Wohnungen umgewandelt werden.

Raum für Raum macht sich Heidi Bucher daran, die Interieurs und erstmals in grösserem Mass auch die Böden «abzunehmen». Die Methode dafür – die Schaffung einer abstreifbaren Hülle – hat sie Schritt für Schritt aus ihren «Bodyshells» und «Wrappings» der Jahre 1971–1973, dem «Einbalsamieren» von Wäsche und Alltagstextilien, dem Abformen verschiedener Objekte und Möbelstücke und schliesslich aus ihren ersten «Raumhäuten» entwickelt. Letztere entstehen, indem die Künstlerin zunächst alle Oberflächen mit getränkter Gaze oder Jute und diese wiederum mit flüssigem Kautschuk überzieht. Ist die Gummimilch getrocknet, schält oder reisst sie die weiche, elastische Schicht mit kraftvollen Gesten kontrolliert ab. Mit diesem ebenso sinnlich-taktilen wie symbolträchtigen Akt wird «das Gestern ins Heute» gezerrt. Die im Haus akkumulierte Zeit, die Spuren gelebten Lebens, verfangen sich dabei zuweilen ganz real, als Staub oder sonstige Partikel, in der abgezogenen «Haut». Gleichzeitig steht das Abhäuten sinnbildlich für einen vehementen, als dringlich empfundenen Abstossungsprozess, für ein metamorphisches «Ablarven», das die Künstlerin mit ihrem Totemtier, der Libelle, teilt. Diesem «Schlüpfakt» unterliegt ein zusehends offener zutage tretender Protest, der sich anfangs primär gegen die restriktiven innerfamiliären Strukturen richtet, denen praktisch jedes Mädchen und jede Frau in den 1970er-Jahren noch immer untersteht. Die Häutung des Ahnenhauses beschliesst diese Phase und leitet über zu einer künstlerisch formulierten Rebellion, die auf jede systemische Kontrollausübung zielt.

Mit der Zeit sind die einstmals hellen, geschmeidigen und oft noch mit schimmerndem Perlmutt nachbehandelten Latexhäute dunkel, steifer und spröder geworden. Die Leichtigkeit, mit der Heidi Bucher ihre im Grunde textile Praxis in eine antipatriarchale Geste verkehrt hat, wohnt ihnen aber nach wie vor inne und erweist sich rückblickend angesichts der oftmals abwertenden Gleichsetzung textiler Gestaltung mit «Frauenkunst» sogar noch radikaler. Dieser Eindruck verfestigt sich, denkt man an die Orte, welche die Künstlerin 1981 und 1982 mit ausgewählten Ensembles aus dem Ahnenhaus szenisch-installativ besetzt: die angrenzende Baugrube, die Treppe zu Gottfried Sempers Stadthaus, eine Industriehalle und den institutionellen musealen Raum.

Die Bodenhäute liegen etwas ausserhalb dieser Rezeption. Ihnen fehlt die Perlmuttschicht, wodurch das nachgedunkelte Latex den originalen Bodenbelägen – Steinfliesen, Tannenriemen, Linoleum und Parkett in diversen Mustern – oft wieder sehr ähnlichsieht. Rund zwanzig Bodenhäute aus dem Ahnenhaus sind belegt. Nur einmal – beim vorliegenden Parkett – hat die Künstlerin die Latexschicht zusätzlich koloriert.

Astrid Näff, 2024

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