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Hervé Graumann, Raoul Pictor cherche son style..., 1993/98
1 DVD für Mac OS 9.X (Code generator), signiert, 1 DVD (Kopie?) mac version, Computer mit Programm, 14''Monitor, Tastatur, Maus, Farbdrucker, Kabel,
Aargauer Kunsthaus Aarau

Die Arbeit «Raoul Pictor cherche son style…» (1993/98) des Genfers Hervé Graumann (*1963) besteht aus einer signierten DVD für Mac OS 9.X, einem Mac-Computer mit Programm, einem 14“Monitor, einer Tastatur, einer Maus, einem Farbdrucker und Kabeln. Das Werk ist eine Art Videospiel, für das Graumann die Kunstfigur Raoul Pictor entwickelt hat, die in ihrem Atelier herumwuselt und mit Hilfe eines Zufallsgenerators, also eines Algorithmus, Kunstwerke schafft. Ausgestellt sieht das dann so aus: Ein Tisch mit Drucker und Computer und ein Stapel A4-Farbausdrucke davor. Dahinter leuchtet der Computerbildschirm auf dem ein Programm läuft. Ich schaue auf dieses seltsame Ensemble aus technischen Geräten und mein Blick bleibt auf dem Röhrenbildschirm des PC hängen. Dort ist zu sehen, wie das Pixelmännchen Pictor den Pinsel in eine der drei Farbdosen tunkt. Dann geht der Avatar-Künstler zur Leinwand, die auf einer Staffelei steht und von der wir nur die Rückseite sehen. Er hantiert vor dem Werk. Während dem Malen gönnt sich Pictor sogar ein Glas Rotwein. Es steht neben der dazugehörigen Flasche auf einem Beistelltisch. Die Flasche wird nie leer, Pictor sucht unablässig, schafft Meisterwerk nach Meisterwerk.

In der Erstversion für den 12’’ Monitor, die 1993 in St.Gallen in einer Stipendienausstellung zu sehen war, stand in Pictors Atelier noch ein Klavier. Kurz darauf waren keine 12’’ Monitore mehr erhältlich und Graumann musste die Arbeit für den 14’’ Bildschirm anpassen. Er änderte auch Pictors Atelierinterieur. In der Aarauer Version findet sich an der Rückwand des Studios zwar noch das Bücherregal; es steht nun dort, wo das Piano einst stand. Daneben erkennen wir aber eine Couch mit Zebramuster sowie eine Gitarre. Die beiden Ur-Versionen sind gut am leuchtend grünen Boden zu erkennen. Graumann wandelte im Laufe der Zeit immer wieder Kleinigkeiten an Pictors Atelier ab oder adaptierte die Arbeit den neuen technologischen Gegebenheiten entsprechend. Es entstanden beispielsweise interaktivere Versionen für ein Kunst und Bau-Projekt 1998/99 im nationalen Zentrum für Statistik in Neuchâtel oder eine webbasierte Flashversion anlässlich des Manor Kunstpreises 2003 im MAMCO in Genf. Das Museumspublikum an der Werkentstehung teilhaben zu lassen war der logische Schritt von der Enge des persönlichen und ortsgebundenen Desktops zur fluiden Volkskunst des World Wide Web.
Heute gibt es neben der «iPhone edition v.1 – Raoul Pictor Pocket painter» (2009) auch noch die Jubiläums-Appversion «Raoul Pictor Mega Painter» (2013). Wie viele Werke hat Pictor wohl in der Zwischenzeit geschaffen? Ich schaue auf den Screenshot des Ateliers von 1993. Auf dem vermeintlichen Bücherregal – eigentlich ist es nichts weiter als ein schwarzes Rechteck mit Raster, das in bunte Felder aufgeteilt wurde – stehen zwei braune Holzskulpturen. Links eine stehende Figur, rechts ein roh gestalteter Kopf, dessen Augen uns direkt anstarren. Ich blicke zurück und sehe plötzlich die Ähnlichkeit zur westafrikanischen Grebo-Maske, deren Studium Pablo Picasso (1881–1973) im frühen 20. Jahrhundert zur Auflösung des Bildraums im Kubismus bewegt haben soll. Die Dekonstruktion des starren Raumschemas durch den Kubismus legte die Grundlage für die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts und prägte so auch unser heutiges Verständnis virtueller Bilder massgeblich mit. Mit der Entwicklung des digitalen Bildschirms wurde offenbarer denn je, dass Formen und Farben nichts weiter als Pixelinformationen sind. Bilder können in Text übersetzt werden, dessen Darstellung als vorgeschriebener Ablauf einer Reihe von visuellen Reizen gelingt. Jenseits des bewussten Spiels mit der Obsoleszenz der technischen Mittel hinterfragt Graumann mit «Raoul Pictor cherche son style…» letztlich unsere Prämissen eines originären Kunstverständnisses, das im Zusammenhang mit der Entwicklung von KI heute mehr denn je zur Diskussion steht. Hat Pictor überhaupt je ein wirkliches Werk geschaffen? Können Maschinen Kunst produzieren?

Bassma El Aidsey, 2024

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