Stahlblech bemalt, 383 x 400 x 498 cm
Unter den Schweizer Plastikern, die in den 1970er Jahren im öffentlichen Raum besondere Präsenz erhalten, kommt Albert Siegenthaler (1938–1984) eine herausragende Stellung zu. Speziell im Aargau, seinem Heimatkanton, ist er mit zahlreichen Arbeiten in Parkanlagen, Schulhöfen oder auch auf Firmengeländen vertreten. Ein Merkmal seiner Kunst ist dabei der Umstand, dass sie sich in naturnahe und bebaute Umgebungen gleich gut einfügt. Dazu trägt bei, dass Siegenthaler seine am Menschen und dessen Ritualen orientierten Themen in einer Art angeht, die ein architektonisches Grunddenken, eine abstrakte Formensprache sowie eine innovative Materialwahl und Farbgestaltung vereint. Diese Aspekte finden in London zusammen, wohin der Künstler 1963 mit seiner Frau, der britischen Plastikerin Gillian White (*1939), aus Paris übersiedelt und wo er nach anfänglicher Beschäftigung mit sakraler Bauskulptur 1965–1966 ein Gaststipendium des British Council am Royal College of Art erhält. In der Folge beginnt er mit Stahlblech zu arbeiten, das er farbig lackiert. Darin zeigt er sich der zeitgenössischen britischen Plastik verwandt, die zum einen vom Minimalismus der sogenannten New Generation oder Caro School, zum andern von der aufkommenden Pop Art geprägt ist.
Diese Einflüsse bleiben auch nach der Rückkehr des Künstlerpaars in die Schweiz weiter wirksam, schwächen sich Mitte der 1970er Jahre aber ab. Noch immer klar erkennbar sind sie bei „Sweet, sweet chapel, no wedding“, einer Grossplastik, die Siegenthaler mit Unterstützung des Aargauer Kuratoriums 1973 für die 12. Biennale für Skulptur im belgischen Middelheim konzipiert. Ihre fliessende fünfteilige Silhouette, die an einer Stelle anstatt eines sechsten vertikalen Elements eine Lücke respektive eine Bodenschwelle aufweist, besitzt eine starke Fernwirkung. Hohen Wiedererkennungswert verleiht ihr aber auch die Bemalung. Die Lackierung in Gelb, Grün und Blau wirkt einerseits wie ein freches Echo auf die Idealbedingungen jeder Ausstellung im Freien: Licht, Vegetation und blauer Himmel. Andererseits unterstreicht die Coolness der Farbfassung den Status des Werks als naturfremdes Artefakt.
Wie eine Planzeichnung zeigt, die Siegenthaler zur druckgrafischen Beilagenserie „Press Art“ der Basler Nationalzeitung von 1972–73 beiträgt, sind die ersten Werkideen zu „Sweet, sweet chapel, no wedding“ noch von einem Gefüge orthogonaler Elemente bestimmt. Am Ende jedoch überwiegen gewellte Momente. Mit ihrer offenen, am Scheitelpunkt zentrierten Form markiert die Plastik den Auftakt zu jener Folge von Archiskulpturen, die Siegenthaler bis zu seinem frühen Tod stetig weiterentwickelt. Es sind pavillonartige Strukturen wie die eng verwandte „High Time Chapel“ (1975, 6. Schweizer Plastikausstellung, Biel; Gambarogno Arte G’76), die „Rosenkapelle“ aus dem „Totentanz“ (1975–1978, Kantonsspital Baden) oder das letzte Hauptwerk „Gaia“ (1982–1983, Kantonsspital Aarau). Manchmal sind die Plastiken zu Brunnen ausgebaut wie bei „Piazza“ (1979, Kantonsschule Zofingen) manchmal ersetzen Treppen die Wellenelemente wie bei „Paradise Lost“ (1980, 7. Schweizer Plastikausstellung, Biel; heute als „Südtor“ im Rathausgarten, Aarau). Historisch folgen all diese Werke dem Typus der Gartenarchitekturen, besonders den mit dem englischen Stil beliebt gewordenen Follies. Die Titel, die Siegenthaler ihnen gibt, zeigen aber deutlich, dass er mit ihnen auch eine starke Symbolik verbindet. Viele der begehbaren Plastiken entwickeln denn auch trotz ihrer konstruktiven Durchlässigkeit eine geheimnisvolle umfangende Kraft.
„Sweet, sweet chapel, no wedding“ wirkt dieser schützenden räumlichen Erfahrung durch die vergleichsweise kompakte Form und die heitere Bemalung noch entgegen. Die Bauteile fügen sich zu einem Ganzen, das eher als monumentales glockenartiges Objekt, denn als räumliches Gebilde wahrgenommen wird. So entsendet die Plastik letztlich nicht nur Farbwellen. Synästhetisch betrachtet erfüllt sie den Park hinter dem Aarauer Grossratsgebäude, wo sie als Schenkung aus dem Nachlass seit Siegenthalers posthumer Retrospektive von 1987 im Aargauer Kunsthaus steht, auch mit imaginärem Klang.
Astrid Näff