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Julius Heinrich Bissier, 29. Mai 61 GW, 1961
Aquarell auf Papier (Ingres), 15.7 x 24.8 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau / Schenkung aus dem Nachlass Jules Bissier
Copyright: Pro Litteris, Zürich
Fotocredit: Brigitt Lattmann

Die Geschichte von Julius Bissiers (1893–1965) künstlerischer Karriere liest sich ungewöhnlich: Obwohl seit den 1910er-Jahren als Künstler tätig, verhilft ihm erst 1958, im Alter von 65 Jahren, eine erste grosse Retrospektivausstellung zum internationalen Durchbruch. Die Gründe dafür sind sowohl persönlicher wie politischer Natur: Nach zwei künstlerischen Krisen in den 1920er-Jahren zieht sich Bissier während des Zweiten Weltkriegs aufgrund mangelnder Ausstellungsmöglichkeiten in die innere Emigration zurück. Auf eine von der ostasiatischen Kunst beeinflussten Schaffensphase in der Nachkriegszeit folgt 1955 die Hinwendung zu den sogenannten Miniaturen in Eiöltempera und Aquarell, die in seinen letzten Lebensjahren neben Tuschezeichnungen die bestimmende Gestaltungsform bleiben.
Dass Bissiers kunsthistorische Bedeutung – ganz im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen – primär an seinem Spätwerk festgemacht wird, ist neben der späten Entdeckung nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass diese Schaffensphase von einer erstaunlichen Konstanz und Kohärenz geprägt ist. Die dem kleinsten Format verschriebenen Malereien entstehen bis zu Bissiers Tod in mönchischer Abgeschiedenheit – bis 1961 in Hagnau am Bodensee, danach in Ascona –, scheinbar vollkommen unberührt vom Trubel der Kunstwelt.

Dass die Bescheidenheit von Bissiers künstlerischer Gesinnung auch mit einer Verhaltenheit der Bilder korreliert, wird anhand des Aquarells „29. Mai 61 GW.“ exemplarisch ersichtlich. Die Anziehungskraft des Werks liegt in der Reduktion der künstlerischen Mittel sowie der Konzentration auf wenige Formen und Farben begründet. Schwerelos schweben an Früchte und Gefässe erinnernde Strukturen über hellbraun lasiertem Grund, der die Anordnung zusammenfasst. Zu den ineinanderfliessenden Farbflächen gesellt sich ein buchstabenartiges Zeichen, das in seiner Vereinzelung jedoch reiner Bildakzent bleibt. Obwohl in Gestalt und Komposition an ein Stillleben erinnernd, bleibt die Darstellung ungegenständlich. Durchdrungen von Leichtigkeit, Fluidität und Transparenz, scheinen die Formen nicht von Künstlerhand gemalt, sondern fast wie von selbst auf dem Papier entstanden. Genauso wenig wie die Formen lassen sich die gebrochenen Farbtöne genauer benennen. Jedes Element der Darstellung bestimmt die Gestalt der Nachbarelemente. So entsteht ein fragiles Gleichgewicht, das stets den Moment der Genese in sich trägt. Gleichzeitig scheint dem Werk – dies gilt für alle Bilder dieser Schaffensphase – eine unergründliche Gewissheit über die Unumstösslichkeit des Status quo innezuwohnen. Die Komposition stellt einen wie durch höhere Logik zusammengefügten, in sich stimmigen und unauflösbaren Kosmos dar und ist damit nicht analytisch in Einzelteile zerlegbar. Fernab von rein ästhetischen Ansprüchen sucht Bissier so die Dar- bzw. Herstellung einer Transzendenz, einer hinter der Materie liegenden Sphäre des Geistigen. Aus seiner zeitlebens praktizierten Auseinandersetzung mit unterschiedlichen philosophischen Strömungen resultiert – fernab von theologischen Dogmen – ein sakrales und rituelles Verständnis der Kunst, das sowohl von den „Schlacken“ des Lebens als auch von der Malereitradition befreit ist. Aus einer meditativ-kontemplativen Haltung heraus werden Formen, Symbole und Schriftzeichen immer wieder neu zu Bildern geordnet, die von einer anderen Sphäre künden. Ein Schlupfloch zurück in die diesseitige Welt bietet uns der Künstler mit der prominent über der Signatur platzierten Deklaration von Datum und Entstehungsort. Die Angabe fungiert jeweils auch als Werktitel und verweist auf den raschen, spontanen Entstehungsprozess. Die ort- und zeitenthobenen Darstellungen werden damit an eine konkrete Grösse und die Person des Künstlers zurückgebunden.

Raphaela Reinmann, 2019

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