Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
X
Meret Oppenheim, Das Ohr von Giacometti, 1933/77
Bronze, 1.1 x 6.8 x 9.8 cm
Aargauer Kunsthaus Aarau / Depositum der Sammlung Andreas Züst
Copyright: ProLitteris, Zürich

Meret Oppenheim (1913–1985) gehört aufgrund ihres vielseitigen und originären Werks zu den zentralen Figuren der Schweizer Kunst des 20. Jahrhunderts, musste jedoch lange um dieses Prädikat ringen. In Süddeutschland und Basel aufgewachsen, zieht es sie im Alter von 18 Jahren nach Paris, wo sie schnell Bekanntschaft mit den Wortführern des Surrealismus macht und ab 1933 gemeinsam mit Künstlern wie Hans Arp (1886–1966) und Alberto Giacometti (1901–1966) an Ausstellungen teilnimmt. Erst 23-jährig wird Oppenheim mit „Déjeuner en fourrure“ (1936), einer mit Gazellenfell überzogenen Garnitur aus Tasse, Löffel und Unterteller schlagartig bekannt. Das heute als Ikone der surrealistischen Kunst geltende Werk erweist sich für Oppenheim als Fluch und Segen zugleich, wird ihr Schaffen in den folgenden Jahrzehnten doch stark darauf reduziert. Der Erfolg, den sie mit ihrer „Pelztasse“ erlebt, bleibt eine singuläre Erscheinung, und die Künstlerin kehrt 1937 aufgrund finanzieller Probleme und einer sich ankündigenden Depression und Schaffenskrise nach Basel zurück, auch dort in stetem Kampf um die gewünschte Anerkennung. Erst in den 1950er-Jahren gelingt durch die rege Beteiligung am Berner Kulturleben eine zweite künstlerische Blüte, in deren Verlauf Oppenheim in Zeichnung, Malerei und Objektkunst zu neuen, zunehmend abstrakten Ausdrucksformen findet. Breitere, auch internationale Anerkennung erfährt ihr Schaffen allerdings erst in den 1980er-Jahren, kurz vor ihrem Tod.

Auf den ersten Blick wie ein gotisierendes Schmuckstück wirkend, entpuppt sich das flache, organisch geformte Bronzeobjekt als lebensgrosse Nachbildung eines menschlichen Ohrs. Dass es sich dabei nicht um irgendein beliebiges, sondern im Gegenteil um ein prominentes Hörorgan handelt, verrät der Werktitel: „Das Ohr von Giacometti“. Oppenheim skizziert 1933 während eines Atelierbesuchs das Ohr ihres Künstlerkollegen Alberto Giacometti, der zu dieser Zeit neben Max Ernst (1891–1976) ihre wichtigste Bezugsgrösse in Paris ist. Oppenheim lernt den Künstler kurz nach ihrer Ankunft in der französischen Hauptstadt kennen und wird durch ihn und Hans Arp in den Kreis der Surrealisten eingeführt. Während ihrer langen Schaffenskrise zwischen 1937 und 1954 bleibt er einer der wenigen Künstler aus der Pariser Zeit, mit dem sie weiterhin Kontakt pflegt.

Erst 1959 vollzieht Oppenheim die plastische Verwandlung der Tintenzeichnung von Giacomettis Ohr in Wachs und schliesslich in Bronze – zu dieser Zeit greift sie vermehrt Ideen aus den 1930er-Jahren auf. 1977 erscheint die Plastik als Multiple in einer Auflage von 500 Exemplaren, darunter jenes, das sich als Depositum der Sammlung Andreas Züst im Bestand des Aargauer Kunsthauses befindet. In seinen Grundzügen bereits in den 1930er-Jahren entstanden, trägt das Objekt deutlich surrealistische Züge. Seine Ambiguität tritt unmittelbar zutage, wenn man versucht, es näher zu beschreiben: Zum einen ist augenscheinlich das im Werktitel benannte Ohr zu erkennen, zum anderen aber gibt sich das Objekt als ironisch-spielerisches Vexierbild zu erkennen. Dem Ohrläppchen entspricht eine zur Faust stilisierte, wahrscheinlich männliche Hand, aus der zwei lilienartige Blüten bogenförmig erwachsen. Die äussere mündet in einer senkrechten Struktur, die verschiedentlich als Umriss eines nackten weiblichen Oberkörpers gedeutet wurde. Folgt man dieser Lesart, tut sich innerhalb der Bronzeplastik ein Netz an erotischen Bezügen auf, die mitunter aus der Tatsache schöpfen, dass das Ohr in vielen Kulturen mit sexueller Symbolik verbunden ist. Hand wie auch Ohr werden als Fragmente vom Körper losgelöst und im Rahmen der Neuinszenierung als prägnante Zeichen eingesetzt. Ganz im Sinn der surrealistischen Vorliebe für Mehrdeutigkeit bleibt das Objekt trotz oder gerade aufgrund seiner Schlichtheit rätselhaft und die Entschlüsselung damit der Imagination der Betrachtenden überlassen.

Raphaela Reinman

X