Öl auf Leinwand, 63.5 x 52.7 cm
Seit Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit setzt sich Ernst Morgenthaler (1887–1962) mit dem Porträt auseinander: „Menschen darstellen, in sie eindringen, sie interpretieren ist eine Aufgabe, die mich von jeher gereizt hat.“ Eine Leidenschaft, von der er auch grossen Respekt hegte, denn ihm war bewusst, dass das Porträtieren am deutlichsten seine Unzulänglichkeiten als Maler aufzeigen würde. Nichtsdestotrotz ging er dieses Risiko immer wieder ein.
Über „Irr- und Umwege“, wie er seine Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter in Bern bezeichnet, beginnt der schon 27-jährige 1914 seine künstlerische Ausbildung bei Cuno Amiet auf der Oschwand. Sein „Leben der Malerei“ nimmt seinen Anfang. In eineinhalb Jahren eignet er sich die Ölmalerei an und lernt die Künstlerin Sasha von Sinner kennen, seine spätere Ehefrau. Nach einem Studienaufenthalt in München, wo er intensiven Kontakt zu Paul Klee pflegt, zieht er 1916 zurück in die Schweiz und wird bald darauf grössere Erfolge und Ausstellungsbeteiligungen verzeichnen. Morgenthaler wird zu einer zentralen Figur im kulturellen Leben Zürichs und der Schweiz und ist eng befreundet mit Hermann Hesse, Karl Geiser, Hermann Haller, Hermann Hubacher oder Johann von Tscharner (1986–1946). Mit letzterem war er bereits einige Jahre befreundet, als Morgenthaler 1922 ein Porträt von ihm anfertigte: „Der Maler von Tscharner“, das sich heute in der Sammlung des Aargauer Kunsthauses befindet.
Vor einem kobaltblauen Hintergrund sitzend, mit vorgelehntem Oberkörper blickt der Porträtierte direkt zu den Betrachtenden. Sein schwarzes Sakko macht einen mächtigen Teil des Gemäldes aus und bildet ein starkes Gegenstück zum hellen Hintergrund. Diese gewagte Farbigkeit ist charakteristisch für Morgenthalers Malweise der 1920er Jahre, wie auch der durchkomponierte Bildaufbau. Die fortgeführten Aussenlinien beider Oberarme und des Verschlusses des Sakkos bilden eine zur oberen rechten Bildecke zulaufende Dreieckskomposition, in deren Mitte sich das Gesicht von Tscharners befindet. Das Gesicht wiederum befindet sich im Rund des Sakkos den verschränkten Händen gegenüber. Die spitz zulaufenden Unterarme mit den sich berührenden Fingern finden ihre Entgegnung in den etwas versetzt sich nach Aussen spreizenden Beinen. Diese ungezwungenen kompositorischen Elemente bestimmen den harmonischen Eindruck des Gemäldes und bilden ein Pendant zur Skizzenhaftigkeit des Pinselstrichs. Die Farbe modelliert in spröden Strichen die Züge und Einzelheiten des Porträtierten. Während von Tscharners Augenpartie mit den starken Brauen den Blick auf sich lenken, ist sein Mund nur angedeutet. Tatsächlich hatte von Tscharner sehr dominante Augen und eine charakteristische Nase, die seine Mimik bestimmten. Gleichzeitig erinnert dieses Andeuten von Gesichtszügen an die Malweise von Tscharners, der in seinen Gemälden die Figuren oft anonymisierte, indem er die Gesichtszüge bis zur Unkenntlichkeit verwischte. Morgenthaler ist es hier auf vielschichtige Weise gelungen, dem Porträtierten sowohl optisch nahe zu kommen, wie auch darüberhinausgehend Hintergründiges über die Person zu erzählen. Morgenthalers „Der Maler von Tscharner“ zeigt eine Künstlerfreundschaft, die bis zu von Tscharners Tod anhielt, und erlaubt den Betrachtenden eine persönliche Begegnung mit dem Maler und dem Modell.
Nurja G. Ritter