
Acryl auf Karton, 148 x 128 cm
Es braucht Entschlossenheit und Sinn für Farbe, um sich mit Werken wie der umfangreichen Reihe der «Fetzen» an die Öffentlichkeit zu wagen. Adrian Schiess (*1959) besitzt beides und hat sich nie gescheut, sein Grundvertrauen in Malerei und Zeichnung auf so elementare Art unter Beweis zu stellen. Mit Erfolg: 1990 vertritt er die Schweiz an der Biennale di Venezia. 1992 nimmt er auf Einladung von Jan Hoet an der Documenta IX in Kassel teil.
Resonanz findet Schiess damals primär mit seinen «Flachen Arbeiten», raumgreifende, häufig bodennah realisierte Umgebungen aus ein- oder mehrfarbig lackierten Span- oder Aluminiumplatten. Aus diesen Werken, die ab 1987 entstehen, beginnt die individuelle Pinselschrift schnell zu verschwinden. In anderen Schaffensblöcken dagegen setzt sich die Erforschung des manuellen Farbauftrags umso demonstrativer fort. In täglichem Zeichnen, in Aquarellen sowie in pastoser Malerei, alle nah an der Abstraktion, tastet sich der Künstler zum einen an seine unmittelbare Umwelt heran. Zum anderen treibt er die Beschäftigung mit den erstmals 1985 in der Zürcher Shedhalle auftauchenden «Fetzen» voran. Als Bildträger dienen anfangs wild zusammengetragene Materialen, darunter auch aus Baumulden herausgefischte Pappe: «Reste», so Schiess, «die bereits eine Form hatten». Später sind es meistens breite Bahnen preiswerten Papiers, auf denen der Künstler mit ebenso preiswerter Farbe praktiziert, was der Winterthurer Kunstkritiker Adrian Mebold einmal «das ewig gleiche Drama der Pinselhiebe» genannt hat. Aus dem Ausdruck erklingt die Anerkennung für die Absage an jegliche Vorstellung von Komposition, Virtuosität und Wert. Die alleinige Instanz in diesem Epos ist die Farbe, ohne Anspruch auf erzählerische Momente. Auch alles Sublime ist in dieser Werkgruppe gebrochen, ebenso die Theatralik der sich selbst feiernden Geste. Eine Farbspur ist hier nicht mehr als eine Farbspur, aber auch nicht weniger.
Aus dieser gänzlich herunterdestillierten Malerei beziehen die «Fetzen» einen Teil ihrer Bedeutung. Zu «Fetzen» werden sie allerdings erst, indem Schiess die Farbbögen zerschneidet oder zerreisst. Gross genug, um noch immer Malerei zu sein, transformieren sie sich so in Objekte. Schiess unterstreicht diesen Aspekt, indem er von ihnen als farbige Dinge spricht, die durch ihre blosse Präsenz die Aufmerksamkeit auf das lenken, was sie umgibt. Das teils Selektive, teils Zufällige, das ihre Entstehung begleitet – man darf hier auch an die «papiers déchirés» von Hans Arp denken – löst also, anders gesagt, im Moment der Platzierung im Raum eine Seherfahrung aus, die sich in ihnen konkretisiert.
Damit nicht genug, thematisieren die «Fetzen» stets auch ihre eigene Entstehung aus einem Teilungsvorgang heraus. Dieses Merkmal, Fragment zu sein, Teil eines irreversiblen, kaum noch rekonstruierbaren Ganzen, manifestiert sich speziell bei der isolierten Präsentation einzelner «Fetzen». Ebenso klingt es mit, wenn Schiess die «Fetzen» in Tischvitrinen ausbreitet oder stapelt, sie auf dem nackten Boden zu einem Haufen türmt oder aber sie in rauer Zahl scheinbar achtlos im ganzen Raum verstreut. Selbst im Umkehrfall, bei dem verbliebene grössere oder annähernd intakte Bögen zu einer «ergebnisoffenen Hängung» zusammenfinden, münden diese in ihrer Vielzahl in die Erkenntnis, stets nur versuchshafte Ausschnitte eines noch grösseren Ganzen zu sein. Der spontan mit dem Abgenutzten und Schäbigen assoziierte «Fetzen» erweist sich also summa summarum als ein recht philosophisches Ding.
Astrid Näff, 2025