Bleistift auf Papier, 21 x 14.2 cm
Neben dem Bildzyklus zum Thema Schule und Internat machen Knabenakte die zweite umfassende Werkgruppe aus im Œuvre von Otto Meyer-Amden (1885–1933). Fast ohne Unterbrüche arbeitet Meyer-Amden an ihnen und schafft rund 200 Arbeiten, die Jünglinge in unterschiedlichen Situationen und Posen zeigen. Der Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer (1888–1943), mit dem Meyer-Amden sein Leben lang eng verbunden ist, äussert sich 1934 in der Zeitschrift „Das Werk“ zur Intention hinter den Akten. Sie seien die „Figuration eigener, wechselvoller seelischer Zustände, wobei sich demgemäss das Männliche von selbst und das Jugendliche als das Ideal der Glückseeligkeit versteht.“ Erste Inspiration für seine Aktzeichnungen findet Meyer in frühgriechischen Apollon-Skulpturen, die ihn weiter zur direkten Anschauung des menschlichen Körpers führen. Während seiner Studienzeit in Stuttgart soll er die Bewegungen von Fussballspielern beobachtet und festgehalten haben. Später interessiert ihn mehr der Körper als ruhende und als fest umrissene Form. Laut dem Kunsthistoriker Sigfried Giedion versucht Meyer-Amden „das fast Unmögliche“, nämlich „vom menschlichen Körper, allerdings in seinem unentschiedenen, knabenhaften Zustand, auszugehen und ihn doch in eine symbolhaft psychische Formel zu ordnen.“ Meyer-Amdens Knabenakte beschäftigen die Kunstgeschichte auch in späteren Jahren. In der Kunsthalle Basel richtet Jean-Christophe Ammann 1979 eine Ausstellung aus, die den Fokus auf diese Werkgruppe legt. Eine vertiefte Analyse leistete auch der Kunstpublizist Reinhold Hohl.
Das Blatt in der Sammlung des Aargauer Kunsthauses zeigt einen hochgewachsenen Jungen mit auffallend langen Beinen. Die Arme hält er über dem Kopf verschränkt, was seiner Erscheinung etwas Verletzliches verleiht. Die Gesichtsformen sind fein ausgearbeitet; der Blick ist direkt auf den Betrachter gerichtet. Die restlichen Körperpartien treten durch Schattierungen aus der Fläche hervor. Im Hintergrund ist in unterschiedlichen Grautönen ein Raum ausschraffiert. Mehrere Stellen scheinen nachträglich aufgehellt, am auffälligsten beim hellen Fleck auf der Brust des Knaben. Verwischt ist auch die Fusspartie. Wie für Meyer-Amden typisch, schwebt die Figur. Die Füsse sind nach unten gerichtet, was Giedion in der oben erwähnten Ausgabe von „Das Werk“ als Hinweis deutet, dass Meyers Akte nicht nur der griechischen Plastik verpflichtet sind, sondern auch einer christlichen Prägung. Er vergleicht die Darstellungen mit den frühgotischen Figuren an den Portalen der Kathedrale von Chartres, deren Füsse ebenfalls nach unten zeigen. Tatsächlich widmet Meyer-Amden die ersten Jahre in Amden, wo er von 1912 bis 1928 lebt, vor allem dem Bibelstudium und der Meditation. Das Religiöse zieht sich durch viele seiner Bildthemen, und schliesslich liegt sein künstlerisches Hauptanliegen in der Darstellung des Gleichgewichts von Universalem und Individuellem, von Natürlichem und Geistigen. Es gehe ihm um eine Bildform, die „dem Kosmos und dem Viereck gerecht werden will“ – oder wie es Giedion formuliert, um eine „Synthese zwischen absoluter Form und gefühlsbetontem Inhalt“. Daher rührt wohl auch das Spannungsverhältnis zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit in seinen Arbeiten.
Yasmin Afschar