Öl auf Leinwand, 57 x 80 cm
„Ich war immer Surrealist“, bekennt Serge Brignoni (1903–2002), der zu den Hauptvertretern des Schweizer Surrealismus zählt, im Rückblick auf sein künstlerisches Schaffen. Im Tessin geboren und in Bern aufgewachsen, zieht es den jungen Künstler nach Studienjahren in Mailand und Berlin 1923 nach Paris, wo er an der Académie André Lhote seine Ausbildung fortsetzt. In der Hauptstadt des Surrealismus kommt er bald mit dem Künstlerkreis um Tristan Tzara (1896–1963) und André Breton (1896–1966) in Kontakt, zu dessen Geisteshaltung er eine starke Affinität verspürt. Eine Ausstellung in der Galerie Jeanne Bucher zu Beginn der 1930er-Jahre rückt Brignonis Schaffen ins Bewusstsein der Surrealisten; obwohl er nie offizielles Mitglied der Gruppierung wird, beteiligt er sich ab 1935 an ihren Ausstellungen. Zu diesem Zeitpunkt hat sich aus der Auseinandersetzung mit der kubistisch-surrealistischen Formensprache Pablo Picassos (1881–1973), der metaphysischen Malerei Giorgio de Chiricos (1888–1978) sowie dem Interesse für Kunstobjekte aus Neuguinea Brignonis eigenständiger Stil surrealistischer Prägung herauskristallisiert, dem er in seinen Grundzügen zeitlebens treu bleibt.
„Végétale“ entsteht 1941, ein Jahr nachdem Brignoni aufgrund des Kriegsausbruchs von Paris zurück in die Schweiz übersiedelt ist. Die Emigration stellt eine Zäsur im Leben des Künstlers dar; er muss zahlreiche Werke zurück- und der Zerstörung überlassen, ausserdem findet der anregende Austausch mit den Pariser Surrealisten ein abruptes Ende. Zurück in Bern sieht sich der im Ausland mittlerweile etablierte Künstler mit Skepsis und Ablehnung gegenüber den neuen künstlerischen Tendenzen konfrontiert und zieht sich infolgedessen in sein Schaffen zurück. Unbeirrt vom konservativen Klima, das ihm hierzulande entgegenschlägt, verfolgt er in einer Vielzahl an unterschiedlichen Medien seine eigenwillige Spielart des Surrealismus, die im Wesentlichen auf der Wahrnehmung des Surrealen im Realen fusst.
Mit „Végétale“ („Pflanzlich“) verhandelt Brignoni dies anhand eines seiner Hauptthemen: Aus einer Fülle an disparaten Elementen entwirft er eine Darstellung der Natur als ein Komplex aller existierenden Kräfte, die dem fortwährenden Rhythmus von Werden und Vergehen unterworfen sind. Vor himmelblauem Hintergrund zeichnen sich in starker Farbigkeit Formen ab, die sowohl auf die Mikro- als auch auf die Makroebene der Natur referieren, vom spinnwebenartigen Netz über rudimentär konturierte Blatt- und Baumformen bis hin zu zellenartig aufgebauten Gebilden, die auf reproduktive Vorgänge rekurrieren. Als kleinste strukturelle Einheit des Lebens gehört die Zelle zu den von Brignoni am häufigsten verwendeten Formen; in ihr sind die Prinzipien des Wachstums und der Metamorphose beispielhaft verbildlicht. Bezeichnend ist daher auch, dass das Pflanzliche im Werktitel als etwas genuin Weibliches ausgewiesen wird – die Vegetation wird hier als Quelle einer reproduktiven Vitalität, als Ort des Keimens dargestellt, deren Erotik höchstens auf einer abstrakten Vorstellungsebene stattfindet. Ungewöhnlich für diese Schaffensperiode sind die perspektivisch angelegten Raster, die sich – mal durchscheinend, mal schachbrettartig gemustert – collageartig in die Bildkomposition einfügen und einen Sog in die Bildmitte hinein suggerieren. In der starken Flucht nach hinten sind noch Referenzen auf de Chiricos metaphysische Malerei zu finden. Zwischen den beiden Polen pflanzlich-genesend und abstrakt-geometrisch bzw. Zufall und Logik äussert sich Brignonis surrealistische Neigung zum Irrationalen in einer Suche, die über die sichtbare Realität hinausgeht und in die Prozesse der Natur eindringt, um diese in ihrem Kern zu ergründen. Das Surreale dient hier fernab jeglicher Ideologie gleichsam als Gefäss, das sowohl organische wie auch konstruktive Elemente aufnimmt und in sich vereint.
Raphaela Reinmann, 2018