Öl auf Leinwand, 80 x 100 cm
Die öffentliche Sammlungstätigkeit des Aargauer Kunsthauses beginnt mit der Gründung des Aargauischen Kunstvereins im Jahre 1860. Die Gründungsmitglieder beschliessen, sich auf den Ankauf zeitgenössischer Schweizer Kunst – gemeint ist in erster Linie Deutschschweizer Kunst – zu konzentrieren. Mit diesem Postulat beabsichtigen sie, nicht mit traditionsreichen Sammlungen in Basel, Bern oder Zürich in Konkurrenz zu treten. Alexandre Calames (1810–1864) Werk „Vue prise aux environs de la Handeck“ ist zwar im Gründungsjahr 1860 geschaffen worden, findet aber erst 1996 Eingang in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses.
Bis in die 1770er-Jahre gelten die Alpen als Todeszone und Ort des Grauens. Caspar Wolf (1735–1783) gilt als eigentlicher Entdecker der alpinen Bergwelt für die Malerei. Das sich entwickelnde Nationalbewusstsein, das 1848 zur Gründung des modernen Bundesstaates führt, findet in den Alpen – dem vermeintlichen Ursprung der demokratischen Ordnung – das identitätsstiftende Motiv. In Genf, wo 1826 mit dem Musée Rath das erste Kunstmuseum der Schweiz gegründet wird, entsteht eine lokale Tradition der Bergdarstellung. Zusammen mit seinem Lehrer François Diday (1802–1877) entwickelt Calame eine Malerei nach akademischen Grundsätzen, die sich Schweizer Motiven widmet und zwischen 1830 und 1860 in spätromantischen, pathetischen Alpendarstellungen mündet.
„Vue prise aux environs de la Handeck“ besticht durch seinen detailliert wiedergegebenen Vordergrund und starke Kontraste, die von Calames Auseinandersetzung mit alten holländischen Meistern zeugen. Beherrschen vom Sturm gepeitschte Landschaften Calames frühen Bildinhalte, werden seine späteren Darstellungen ruhiger, und höchstens fliessende Gewässer bringen Bewegung. Im vorliegenden Gemälde sucht sich ein Bach den Weg zwischen groben Gesteinsbrocken hindurch. Der Blick des Betrachters folgt dem Verlauf und wird in die Tiefe des Raumes geführt. Im Bildmittelgrund dominieren mächtige Tannen, die zwischen 1850 und 1860 zusammen mit Arven die Hauptakteure in Calames Werken sind. Mit ihrer dunklen Masse heben sie sich eindrücklich ab von der sonnenbeschienen Gebirgskette und dem hellblauen Himmel.
Calame macht seine ersten Erfahrungen mit der Alpenlandschaft 1835: Um Studien für eine Auftragsarbeit anzufertigen, reist er ins Berner Oberland. Von diesem Zeitpunkt an verbringt der Künstler den Sommer meistens – allein oder in Begleitung von Schülern – in den Bergen und sammelt als sensibler, von einer Leidenschaft für die Natur getriebener Wanderer Eindrücke. Die Landschaft Handeck liegt auf dem Weg zum Grimselpass und dient Calame als Vorlage für zahlreiche Skizzen, die er später im Atelier in seinen Ölgemälden verarbeitet. Eine dieser Kompositionen – „Gewitter an der Handeck“ – wird 1839 am Pariser Salon mit der Goldmedaille geehrt. Calame zählt zu den führenden Vertretern der Schweizer Landschaftsmalerei und erlangt Anerkennung beim aufstrebenden Bürgertum sowie bei Adelsvertretern in ganz Europa. Er verherrlicht die schweizerische Alpenlandschaft in seinen gefühlsvollen Stimmungsbildern als Inbegriff einer erhabenen und unberührten Natur und trifft damit den spätromantischen Geschmack.
Karoliina Elmer